DDR-Opposition: Nicht für besseren Sozialismus, sondern für Freiheit!

Straßenszene in der DDR 1978 — Foto: Erich Schutt

Das andere Gesicht

Fünf Bücher erinnern an das Land, in dem man schmorte

Von A. Henry. — Dresden, 25. Dezember 2020

Gab es die DDR überhaupt? Langsam zweifelt man daran. Der 9. November 1989, Tag des Mauerfalls, wichtigster Tag in der jüngeren deutschen Geschichte, fand zum Beispiel 2020 in der „Tagesschau“ keinerlei Erwähnung mehr. Doch dafür gibt es erfolgreiche „Ost-Frauen“, die medial gefeiert werden und unser Leben heute allseits bereichern. „Mythos Ostfrauen“ heißt sogar ein neues Buch. Darin versammelt ist ein wahrer DDR-Fanclub. Nicht fehlen darf die strahlende Eisprinzessin Kathi Witt, das „schönste Gesicht der DDR“.

Sie strahlt fast noch immer wie an ihrem 20. Geburtstag, als sie in der FDJ-Zeitung „Junge Welt“ stolz verkündete: „Mein schönstes Geburtstagsgeschenk – ich werde Kandidatin der SED!“ Auch die anderen Frauen sind so DDR-konform wie die Bundeskanzlerin höchstselbst. Man muß sich fragen, woran die DDR überhaupt zugrunde gegangen ist, warum sich dort nicht jeder pudelwohl gefühlt hat. Wer die DDR heute kritisiert, ist fast schon ein „Nazi“! Ganz wie damals.

Wo sind sie geblieben, die vielen DDR-Flüchtlinge vom Sommer 89? Wo ist das andere Gesicht der DDR, das heute niemand zeigen will, für dessen Darstellung es keine staatlichen Fördermittel gibt? Das Gesicht der politischen Gegner, die keine Biermann-Freunde waren und keinen besseren Sozialismus wollten, sondern einfach nur Freiheit! Man muß heute schon sehr nach ihnen suchen, um sie noch zu entdecken. Hier gibt es dafür ein paar Tipps.

Geiselnahme in Frankfurt/Oder

Drei Strafgefangene überwältigen ihre Wärter, nehmen ihnen die Waffen ab – zwei Kalaschnikow und eine Pistole. Auf dem Gefängnisparkplatz liefern sie sich eine Schießerei mit einem Streifenwagen. Der Plan, den Wagen zu kapern, mißlingt. Stattdessen verschanzt sich das Trio mit zwei Polizisten als Geiseln in einem nahestehenden Hochhaus. Das Ganze ist kein amerikanischer Thriller, sondern Realität und spielt 1981 in Frankfurt/Oder. Im Hochhaus besetzen die Geiselnehmer die Wohnung des Hausmeisters, weil der ein Telefon hat. Sie verlangen einen Fluchtwagen und freien Abzug nach Westberlin.

Das Hausmeisterehepaar verhält sich „zutraulich, später sogar ausgesprochen freundlich“, die Frau des Hausmeisters versorgt die Geiselnehmer mit Kaffee. Zufällig ist auch noch eine 78-jährige Tante aus dem Westen zu Besuch. Die Gegend draußen erscheint inzwischen wie tot, ist komplett abgeriegelt. Eine DDR-Antiterroreinheit bereitet die Erstürmung der Wohnung vor. Eine Reizgasbombe fliegt in die gute Stube der Hausmeistersleute, die Wohnungstür wird herausgeschossen, im Radio singen Simon and Garfunkel „The Sound of Silence“. Die Geiselnehmer geben auf, werden abgeführt. Von einem Balkon gegenüber ruft ihnen jemand zu: „Gut gemacht, Jungs!“

Der Kopf des Geiselnehmertrios, André Baganz, zuvor schon wegen eines Republikfluchtversuchs verurteilt, bekommt lebenslänglich, verbringt zehn Jahre in Einzelhaft. Kleine Erleichterungen erkämpft er sich durch Hungerstreiks. Stasileute versuchen, ihn zu brechen, sogar zu vergiften. Alles das beschreibt der Sohn einer Deutschen und eines in der DDR ausgebildeten Afrikaners in seiner atemberaubenden Biografie. Warum er wegwollte aus diesem Land, wie seine Flucht scheiterte, seine Bestrafung, der bewaffnete Ausbruchsversuch und die darauf folgenden Jahre des Martyriums als einer der gefährlichsten Staatsfeinde im berüchtigten Stasigefängnis Bautzen II.

■ André Baganz: „Endstation Bautzen II – Zehn Jahre lebenslänglich“. Mitteldeutscher Verlag.

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Sag dein letztes Gebet!

„Ich war nicht ich selbst, wenn ich das Pioniertuch umband. Wenn ich das FDJ-Hemd, die GST- und später die NVA-Uniform anzog. Aber es interessierte niemanden, ob ich ich selbst war. Ob ich verzweifelt war.“ So schreibt Ilja Hübner, geboren 1965 in Brandenburg an der Havel, über seine Jugend in der DDR. Mit 19 wird er zum Wehrdienst in die Nationale Volksarmee (NVA) eingezogen. Er lernt den Drill, die Hierarchiespielchen unter den Soldaten, die Schikanen, das Gefangensein in der Kaserne kennen. Jemand gibt ihm den Tipp, er solle seine Brille kaputtmachen, so könne er sich einen Ausgang aus der Kaserne zum Optiker verschaffen.

Der Trick gelingt, nur daß er sich im Ausgang in eine Kneipe setzt und trinkt. Stark alkoholisiert, beschließt er, einfach in den nächsten Zug zu steigen und nach Hause zu fahren. Er besucht Freunde, Partys, verdrängt die Realität. Nicht lange, und er wird als Deserteur zurückgebracht in die Kaserne. Für ihn „die Hölle auf Erden“. Dabei hatte er erst deren Vorhof kennengelernt. Denn nun landet er im Militärstrafvollzug, der NVA-Disziplinareinheit in Schwedt. Unter DDR-Soldaten kennt man den Spruch: „Sag dein letztes Gebet, es geht nach Schwedt!“ Viel ist bis heute nicht über diese Institution bekannt geworden. Die dort waren, kehrten als andere wieder. Viele schweigen, wollen nicht erinnert sein. llja Hübner und andere haben ihre Erfahrungen geschildert.

■ Paul Braunhert und Ilja Hübner (Hrsg.): „Spür die Angst – Zeitzeugen brechen ihr Schweigen“. Projektgruppe Militärgefängnis Schwedt.

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Das Land, in dem man schmorte

Ein junger Mann mit dem Familiennamen Brahms – wie der berühmte Komponist, nur ohne dessen Talent, ohne jedes Talent, ein gewöhnlicher Brahms eben, dem sein Name wie ein Plagiat, wie ein „abgetragener Mantel“ erscheint – erlebt den Drill der NVA. Haarscharf schlittert er an den stets drohenden Klippen einer Entlarvung als Staatsfeind vorbei, im militärischen wie im zivilen Leben. Nach dem Wehrdienst wagt er den alles entscheidenden Schritt: Er stellt einen Ausreiseantrag – etwas, das es offiziell eigentlich nicht gibt.

Man unterstellt ihm psychische Probleme, staatsfeindliche Hetze. Ein Stasimann prophezeit ihm im Verhör: „Sie können sicher sein, daß Sie in diesem Land schmoren werden, bis Sie Rentner sind!“ Was ist das für ein Land, in dem man „schmort“? Als er es endlich schafft, der Weg für ihn frei ist, brechen über Nacht die unüberwindlich scheinenden Barrieren zusammen. Was eben noch galt, wird bedeutungslos. Ein anderes Leben beginnt. Er wird zum reisenden Vertreter, Produktberater genannt, nimmt an „Erfolgstrainings“ teil und entdeckt überall Parallelen, wechselt wie ein Zeitreisender zwischen damals und heute.

Dabei begegnet er immer wieder skurrilen Persönlichkeiten wie einer Politikerin „mit stark hängenden Mundwinkeln“, die einst ein Bad in seiner Klappbadewanne genommen hatte. Nun trennt beider Leben das Sicherheitsglas ihrer gepanzerten Limousine. A. Henry, geboren 1961, hat in seinem Buch selbst Erlebtes authentisch verarbeitet und sieht darin einen „Roman über eine Generation“.

■ A. Henry: „Ein gewisser Brahms“. GALA-Verlag.

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Ausreise mit Heine

„Auf der Visitenkarte stand ganz frech einst Journalist. Wenn es mit Recht gegangen wär – die Hunde hätten mich angepißt.“ – Alexander von Hohentramm, ehemals Journalist der in Ost-Berlin erscheinenden „Berliner Zeitung“ lehnt sich an Heinrich Heine an und faßt die Geschichte seiner Ausreise aus der DDR in Verse. Dabei folgt er Heines berühmtem „Deutschland – ein Wintermärchen“, intelligent, mit Hintersinn und Ironie:

„Hier ist deines Bleibens nicht länger.
Du brauchst zum Leben andere Luft.
Lieber in den Sturm hinaus,
als sicher in der stickigen Gruft.

Drum sandte ich meinem Vater Staat
in freundlichen Worten ein Schreiben.
Drin stand: ich fühle mich desolat
und ich kann und ich will hier nicht bleiben.“

Er stellt den Ausreiseantrag und trifft unter anderem Karl Marx „Unter den Linden“, der sich über die Ergebnisse seiner Utopie gerade noch wundern kann, bevor er unter dem Brandenburger Tor erschossen wird. Tatsächlich gelingt dem Autor die Ausreise mitten in den 1980er Jahren, doch was er „drüben“ vorfindet, beseeligt seine Freiheitserwartungen in keinster Weise. Mithin schiebt er ein zweites Verswerk nach, das sich der deutschen Gegenwart widmet:

„Demut nur den Himmelsmächten,
nicht den Knilchen hier auf Erden,
nicht den Schleimern und den Knechten,
die als Herren sich gebärden.“

■ Alexander von Hohentramm: „Deutschland – kein Wintermärchen“. Verlag ZUM HALBEN MOND.
■ Alexander von Hohentramm: „Bilder aus der deutschen Gegenwart“. Verlag ZUM HALBEN MOND.

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Staatsfeind Nummer eins

„Genug den Namen des Volkes mißbraucht, ihr Lakaien!“, rief er dem Tribunal entgegen. Josef Kneifel wußte, daß er nichts zu verlieren hatte. Das Urteil stand längst fest. Anders als bei den Blutgerichten der DDR-Justizministerin Hilde Benjamin nach dem Volksaufstand am 17. Juni 1953 gab es 1980 in der DDR die Todesstrafe offiziell nicht mehr. Also blieb nur „Lebenslänglich“ als Höchstmaß.

Die Tat: Kneifel und ein Freund hatten Sprengstoff hergestellt, um das 13 Meter hohe und 40 Tonnen schwere Marx-Monument in Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt, zu sprengen. Sie entschieden sich dann für einen als Mahnmal aufgestellten russischen Panzer T-34. Sowjetische Offiziere saßen daher auch mit im Gerichtssaal. Kneifel beleidigte den Staatsanwalt und wurde unter Knüppelschlägen aus dem Saal geschleift, wobei er noch schreien konnte: „In eurer Komödie übernehme ich keine Rolle.“

Er widerstand dem Sadismus der Wärter mit beispielloser Konsequenz, selbst als korrupte Mithäftlinge ihm Zähne ausschlugen und Knochen brachen, gab er nicht klein bei. Er wurde regelmäßig zusammengeschlagen, hatte Schreib- und Besuchsverbot, wurde fixiert, an Eisen gekettet, mußte auf einer Betonpritsche schlafen, saß in verdunkelten Zellen, zog einen 14-monatigen Hungerstreik durch, wobei er mittels eines Trichters zwangsernährt wurde. Er widersetzte sich durchgehend der Anweisung, sich bei Zählungen als „Strafgefangener“ zu melden und meldete sich stets als „politischer Gefangener“.

Er schlitzte sich die Beinvenen auf und beschmierte mit dem Blut die Wände, verhöhnte die Vollzugsbeamten mit Blut-Karikaturen. Trotz allem gelang es der Stasi nicht, ihn für psychisch krank zu erklären. Schließlich wurde er Honecker persönlich unbequem, als dieser 1987 eine Staatsreise nach Westdeutschland plante. In höheren Kreisen war man über die Kirche auf den Fall aufmerksam gemacht worden. Im August des Jahres durfte Kneifel nach siebenjährigem Martyrium mit seiner Frau im Dienstwagen des sächsischen Landesbischofs Johannes Hempel von Thüringen über die Grenze nach Bayern fahren.

Was ihn zu seinem Widerstand antrieb und welche Enttäuschungen er dann im anderen Deutschland erlebte, haben Johannes Schüller und Erik Latz zu einer teils erschütternden Dokumentation zusammengetragen.

■ Johannes Schüller und Erik Latz: „Der Anschlag. Josef Kneifel – der Weg eines totalitären Helden“. Schriftenreihe BN-Anstoß, Verein Journalismus und Jugendkultur Chemnitz e.V.

 

 

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