Dr. Wolfgang Caspart zum Verstehen von Gott, Natur und Gesellschaft

Anstöße für tiefe Gedanken bietet jeder Friedhof, hier: Terenten/Südtirol. — Foto: HVDD

Optimismus und Freiheit

Über die Vorstellungen der Menschen vom Absoluten

Von Dr. Wolfgang Caspart. — Salzburg, 27. Januar 2021

Bekanntlich kommt Religion vom lateinischen „religio“ und bedeutet Wiederverbindung, nämlich die Wiederverbindung des Bedingten mit dem Unbedingten, des Relativen mit den Absoluten, des Zeitlichen mit dem Überzeitlichen, des Sterblichen mit dem Unsterblichen, des Ohnmächtigen mit dem Übermächtigen, des Schwachen mit dem Allmächtigen, des Niedrigen mit dem Hohen. Im Grunde hat jedermann dieses „Gefühl der schlechthinniglichen Abhängigkeit“ (Schleiermacher 1799), der Philosoph, der Wissenschaftler, der Ideologe und sogar der Agnostiker und Atheist. Für den religiösen Menschen wird das Unbedingte, Absolute, Überzeitliche, Unsterbliche, Übermächtige, Allmächtige und Hohe mit dem Synonym „Gott“ bezeichnet. Für andere heißt das alles Bedingende „Natur“, „Gesellschaft“, Ökonomie“, „Biologie“ usw.. Die Figur oder das Muster bleibt gleich.

DER HERMENEUTISCHE ZIRKEL

Zu Beginn jeder ernsthaften Beschäftigung mit einem Problem steht die Hermeneutik, das einfühlsame Verstehen, um seinen Sinngehalt und sein Wesen zu erkennen und psychologisch zu erklären (Diltey 1907). Sie ist schon der Ausgangspunkt für das Finden der Voraussetzungen der Naturwissenschaften, für die Heuristik ihrer Axiome. Wenn also bereits die Naturwissenschaft dem „hermeneutischen Zirkel“ eines ganzheitlichen Sinnzusammenhanges und eines ihr vorangehenden Vorverständnisses nicht entgeht (Gadamer 1960), kann den Geisteswissenschaften und speziell der Religion aus ihrem hermeneutischen und heuristischen Vorgehen kein Vorwurf gemacht werden.

In Erkenntnis der bedingenden Mächte hat sich der Mensch ihnen anzupassen und zu folgen. Wer ihnen nicht nachkommt und sich gegen sie versündigt, schädigt und straft sich selber. Es hängt also von den Vorstellungen ab, welche sich die Menschen vom Absoluten machen. Im strengen Determinismus, Mechanismus und Materialismus handelt der Mensch eigentlich gar nicht frei, sondern agiert die Natur im Menschen. Im Reich der Notwendigkeiten besteht also keine wirkliche Freiheit und sie ist nur Selbsttäuschung, Mensch und Natur funktionieren wie eine Maschine (Mettrie 1747). Demnach hängen Optimismus oder Pessimismus vom Vertrauen in die übergeordneten Mächte ab. In der Transzendentalphilosophie hat sich der Mensch sittlich zu verhalten und dem Kategorischen Imperativ zu folgen (Kant 1788). Im Religiösen hängen Freiheit und Optimismus von der Rolle ab, inwieweit Gott dem Menschen selbstverantwortliche Autonomie zugesteht.

Aus den zugestandenen Freiheitsgraden resultiert in weiterer Folge, welche Rolle die Freiheit in einer religiös oder auch ideologisch bestimmten Kultur spielt. So wie alle Ideologien untereinander verschieden sind und sich nur im Entstehungsmechanismus aus einer generalisierten Theorie oder Hypothese, der Relativierung aller anderen Ansätze und einer daraus entwickelten apologetischen Mythenbildung gleichen (Caspart 1991, S. 89-105), so unterscheiden auch alle Religionen im Detail und haben bloß eine gemeinsame Wurzel: die Begegnung des Menschen mit dem Numinosen (Heiligen, Göttlichen) und die Antwort des vom Numinosen bestimmten Menschen (Mensching 1962, S. 15). Die Begegnungserlebnisse der Religionsgründer, Propheten, Offenbarungsempfänger, Heiligen, Mystiker, Beter, Ordensgründer, Inspirierten und Frommen differieren (Mensching 1955) und formen im antwortenden Handeln durch Konfessionalisierung, Dogmatisierung und Organisierung (Mensching 1962, S. 288-297) jeweils eigene Kulturen.

GOTTESERFAHRUNGEN

Der Kern der ostasiatischen Religionen Taoismus und Konfuzianismus besteht in der Einordnung des Menschen in die kosmischen Gesetze (Groot 1918), wobei der Taoismus zu einer inaktiveren Haltung als der aktivere Konfuzianismus tendiert, welcher ein aktives sozialethisches Verhalten fordert. Ein Zuwiderhandeln fordert die eigene Selbstschädigung heraus. Viel Platz für Optimismus und Freiheit bleibt also nicht.

In der Wiedergeburtslehre des Hinduismus (Friedrichs 1986) wird ein sittliches Verhalten gefordert. Benützt der Mensch seine Freiheit zu unsittlichen Handlungen, wird er durch eine schlechte Wiedergeburt bestraft. Aus dem ewigen Kreislauf der Wiedergeburten (Samsara) gibt es kein Entkommen, wodurch bei ethischem Verhalten nur die Hoffnung und die Erwartung auf eine gute Wiedergeburt zu einer optimistischen Erwartung berechtigt.

Im aus dem Hinduismus entstandenen und ebenfalls der Wiedergeburtvorstellung verpflichteten Buddhismus (Fischer-Schreiber 1986) bedeutet Leben gleich Leiden, also wahrlich keine optimistische Anschauung. Die einzige Hoffnung besteht im Ausscheiden aus dem Kreislauf der ewigen Wiedergeburten im endgültigen Verlöschen (Nirwana), sei es durch eigenes Verhalten und mühsame Übung oder durch die Gnade beseelter Geister, die selber aus Mitleid und Hilfsbereitschaft auf ihren Eingang ins Nirwana verzichtet haben (Bodhisattva).

Die mosaische Religion als die Stammes- oder Volksreligion der Juden kennt ein exklusives Verhältnis zu ihrem strengen Gott, welcher dieses Volk auserwählt hat. Ein Abfall vom Ihm wird nachdrücklich verdammt, und seine Beziehungen zu Ihm sind religionsgesetzlich genau geregelt. Jedenfalls nach religiösem Gesetz fallen Religions- und Volkszugehörigkeit zusammen. Die religiösen Verheißungen sind kaum transzendental, sondern auf die Erlösung der Juden als Volk auf dieser Welt gerichtet. Das Endziel, geäußert in den späten Propheten, ist die Verheißung des Sieges Jahwes über alle anderen Götter und seine Herrschaft auf Erden. Als strikte Gesetzesreligion wird eine genaue Befolgung der umfangreichen göttlichen Gesetze gefordert, erfordert eine subtile Auslegungen der Regeln und lässt kaum Spielraum für eigene oder private Wege zu Ihm.

Der Islam fordert die bedingungslose Hingabe in den Willen Gottes. Die Befolgung der weniger zahlreichen und dem Propheten geoffenbarten äußeren Gesetze wird zwar strikt verlangt, ist aber klar und nicht sehr allzu schwer zu erfüllen. Im übrigen hängt das Schicksal der Menschen vom nicht durchschaubaren Willen Allahs ab, den man in Guten und Schlechten zu akzeptieren hat. Von Gläubigen wird zwar ein korrektes Verhalten erwartet, ob ihm dieses auf Erden Erfolg und Glück bringt oder nicht, steht aber nicht bei ihm. Der Gesetzestreue wird allein in Paradies belohnt. Ein Abfall von Allah (wörtlich „der Gott“) wird wie beim Judentum streng geahndet, sodass auch bei dieser Gesetzesreligion die Freiheit eine untergeordnete Stellung besitzt.

DIE CHRISTLICHEN HAUPTTUGENDEN

Beim Christentum spielen die drei Kardinaltugenden Liebe, Glaube und Hoffnung die Hauptrolle.

Liebe ist die größte der christlichen Tugenden: Der absolute Gott hat sich in liebender Hinwendung in die Welt entäußert, weswegen sich Seine Geschöpfe in liebendem Vertrauen an Ihn wenden und Ihm vertrauen dürfen. Weil alle Menschen Seine Geschöpfe sind, sind die Menschen gehalten, sich auch gegenseitig zu lieben. In ihrer Liebe begegnen sie der größeren und umfassenderen göttlichen Liebe. Es herrscht also ein Verhältnis der Gotteskindschaft zum Menschen.

Glaube, vielleicht besser Gottvertrauen, lat. fides ist in der christlichen Religion wichtig: In dem Empfinden der eigenen Relativität, Schwäche, Bedingtheit, Sterblichkeit und Ohnmacht suchte der Gläubige sich mit dem Absoluten, Bedingenden, Ewigen und Allmächtigen wieder zu verbinden. In der Begegnung mit Gott durfte er darauf vertrauen, dass er in seinem antwortenden Handeln verstanden und in der göttlichen Absolutheit, Unbedingtheit, Ewigkeit und Allmacht geborgen wird.

Hoffnung gibt es in der christlichen Theologie, nicht nur aus der Gotteskindschaft des Mensch, sondern auch in seiner Eigenschaft als Bürger zweier Welten ist (Augustinus 1982). Auf der einen Seite ist er Bürger der irdischen Welt des Teufels, der deutschen Verballhornung des griechischen Diabolos, des Durcheinanderwerfers der Gedanken, des Verwirrers und Verführers. Doch auf der anderen Seite ist er Bürger des transzendentalen Reiches Gottes. Auch wenn der Fürst dieser Welt der Teufel ist, bleibt dem Menschen die tröstliche Gewissheit, auch der göttlichen Welt angehören zu können. Folglich ist es die diesseitige Aufgabe der Menschen und nicht zuletzt auch der Verantwortlichen und Herrschenden, die irdische Welt schon jetzt auf die göttliche Welt vorzubereiten und auf sie auszurichten.

Damit kommt aus religionssoziologischer Warte von den großen Religionen dem Christentum der höchste Grad an Optimismus und Freiheit zu. Seine calvinistischen Spielart wird darin allerdings durch den Prädestinationsglauben wieder eingeschränkt. Danach kommt Gott eine absolute Allmacht zu, so dass die Ungleichheiten in der Welt von Ihm gewollt sein müssen und Er einigen Individuen Seine besondere Gnade zukommen lässt und andere nicht. Freilich ist dann der Auserwählte zu einem demütigen, zurückhaltenden, bescheidenen, puritanischen und enthaltsamen Verhalten verpflichtet, weswegen er sein Kapital nicht verprasst, sondern reinvestiert und vermehrt (Weber 1905).

In der Orthodoxie wird die direkte spirituelle Erfahrung stärker betont. Da die orthodoxen Kirchen weniger dogmatisch Fixierungen unterliegen, sind deutliche Wege zu Freiheit und Optimismus offen gelassen. Andererseits tritt in ihr Christus als Pantokrator auf, als Allesbeherrscher (Sprizing 1989). Im römischen Katholizismus herrschte diese Haltung bis im 13. Jahrhundert vor und erhielt dann immer mehr einen mitleidenden Charakter, aus dem Gebieter wurde der Schmerzensmann. Gerade im Appell an die Gefühle der Gläubigen zeigt sich die zugestandene Autonomie des Menschen. Durch die Möglichkeit, sich von seinen Sünden durch gute Werke und Ablass zu befreien, also durch eigenes Tun ewigen Lohn zu verdienen, kommt die Freiheit im Katholizismus zum Tragen.

Dagegen wendet sich bekanntlich das Luthertum, wonach ein Mensch nicht durch sein Handeln die Gnade Gottes erwarten und verdienen kann. Sola gratia (allein durch die Gnade) kommt die Rettung des Einzelnen zu Stande. Gott schaut auf das Herz des Einzelnen, sodass allein dessen Glaube bzw. Vertrauen (sola fide) das Maßgebliche für Gott darstellt. Das vorbehaltlose Gottvertrauen öffnet dem Lutheraner Optimismus und Freiheit, ohne die Autorität Gottes zu untergraben. Eine ausschließliche oder schrankenlos negative Freiheit „wovon“ existiert in keinem transzendental bestimmten System, für dieses ist die positive Freiheit „wozu“ entscheidend (Kant 1788). Religiosität wird philosophisch zur „höchsten Entschiedenheit für das Rechte, ohne alle Wahl“ (Schelling 1809) und soziologisch zur Handlungslegitimation.

LITERATURNACHWEISE

Aurelius AUGUSTINUS: De civitate Dei (Dt. „Über den Gottesstaat“). Übersetzt von Wilhelm THIMME. 2. Auflage, Deutscher Taschenbuchverlag, München 1982.
Wolfgang CASPART: Idealistische Sozialphilosophie. Ihre Ansätze, Kritiken und Folgerungen. Universitas Verlag, München 1991.
Wilhelm DILTHEY: Das Wesen der Philosophie. Zuerst 1907. Mit einer Einleitung herausgegeben von Otto POEGGELER. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1984 (Philosophische Bibliothek ; 370).
Ingrid FISCHER-SCHREIBER: Buddhismus/Taoismus. In Michael S. DIENER u.a.: Lexikon der östlichen Weisheitslehren. Scherz Verlag, München 1986.
Kurt FRIEDRICHS: Hinduismus. In Michael S. DIENER u.a.: Lexikon der östlichen Weisheitslehren. Scherz Verlag, München 1986.
Hans-Georg GADAMER: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Zuerst 1960. Unveränderter Nachdruck der 3. erweiterten Auflage. Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen 1975.
J(ohann) J(akob) (Maria) de GROOT: Universismus. Die Grundlage der Religion und Ethik des Staatswesens und der Wissenschaft Chinas. Verlag Georg Reimers, Berlin 1918.
Immanuel KANT: Kritik der praktischen Vernunft. Zuerst 1788. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1985 (Philosophische Bibliothek 38).
Gustav MENSCHING: Die Söhne Gottes. Leben und Legende der Religionsstifter. Texte ausgewählt und erklärt von Gustav MENSCHING. Holle Verlag, Darmstadt 1955.
Gustav MENSCHING: Die Religion. Eine umfassende Darstellung ihrer Erscheinungsformen, Strukturtypen und Lebensgesetze. Zuerst 1959. Ungekürzte Taschenbuchausgabe, Wilhelm Goldmann Verlag, München 1962 (Gelbes Taschenbuch 882-883).
Julien Offray de la METTRIE: L'homme machine (Dt. „Der Mensch eine Maschine“). Zuerst 1747. Deutsch von M. BRAHN. Felix Meiner Verlag, Hamburg 1909 (Philosophische Bibliothek 68).
Friedrich Wilhelm Joseph (sei 1812: Ritter von) SCHELLING: Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Zuerst 1809. Felix Meiner Verlag, Hamburg 2001.
Friedrich Daniel Ernst SCHLEIERMACHER: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zuerst 1799. Mit einem Nachwort von Carl Heinz RATSCHOW. Philipp Reclam Verlag, Stuttgart 1980 (Universal-Bibliothek 8313/3).
Günter SPITZING: Lexikon byzantinisch-christlicher Symbole. Die Bilderwelt Griechenlands und Kleinasiens. Eugen Diederichs Verlag, München 1989.
Max WEBER: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Zuerst 1905. Vollständige Ausgabe herausgegeben und eingeleitet von Dirk KAESLER. C.H. Beck Verlag, München 2004.

DAS BUCH

Wolfgang Caspart: Idealistische Fundamentaltheologie. Eine Anthologie. Fromm Verlag, Saarbrücken 2020, ISBN 978-613-8-36532-7.
AUS DEM VERLAGSTEXT: Dieses Buch behandelt das Wesen der Religion, ihre Strukturtypen, Funktionen und Erscheinungsformen, Tradition und Erneuerung, Wahrheit und Toleranz. Die Gliederung ist als Anthologie so gehalten und zu lesen, dass jeder einzelne Beitrag einem speziellen Thema gewidmet ist, weswegen das Ganze nicht wie ein Lesebuch in einem durchstudiert werden muss, aber kann. Dabei können manche Quellen am Ende jedes Kapitels mehrfach in verschiedenen Abschnitten vorkommen, was die innere Verbindung der vorgestellten Überlegungen unterstreicht. Das Inhaltsverzeichnis vermag dem Leser erleichtern, die ihn zunächst vorrangig ansprechenden Gedanken sogleich aufzufinden. Natürlich lassen sich Fachausdrücke nicht vollkommen vermeiden, sodass am Ende ein Glossar mit Erklärungen angefügt worden ist, um auch dem interessierten Fachfremden das Verständnis zu erleichtern. Das Anliegen einer idealistischen Fundamentaltheologie überschreitet Konfessionalismus wie Dogmatismus und ist grundsätzlich, sodass es über den engeren Kreis der Fachleute hinauszugreifen vermag. Ebenfalls angefügte Literaturverzeichnisse sollen den Leser dieses Buches anregen, sich mit dem jeweiligen Gegenstand vertieft zu befassen.

DER AUTOR

Dr. Wolfgang Caspart ist studierter Betriebswirt und Psychologe, arbeitet als forensischer Sachverständiger und veröffentlicht an den Schnittstellen von Psychologie, Soziologie, Sozialphilosophie, Theologie und Ökonomie. Er hat 6 Bücher und über 200 wissenschaftliche Beiträge geschrieben sowie über 40 wissenschaftliche Vorträge gehalten. Der vorstehende Text ist unter der Überschrift „Optimismus und Freiheit in religionssoziologischer Hermeneutik“ in „Idealistische Fundamentaltheologie“, Seiten 255 bis 260 enthalten. Wir danken Herrn Dr. Wolfgang Caspart für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung der Leseprobe auf unserer Webseite.

 

 

 

Zurück