Lausitz Magazin-Interview: Prof. Hans-Werner Sinn zur Energiewende

Prof. Hans-Werner Sinn — Foto: Romy Bonitz/ifo/Wikipedia

„Ein extrem schwieriges Unterfangen“

Grüner Strom kann kein einziges Kraftwerk einsparen

Hans-Werner Sinn zählt zu den bedeutendsten Ökonomen Deutschlands und ist bis heute einer der meistzitierten Wissenschaftler unseres Landes. Als emeritierter Präsident am ifo Institut ist er nach wie vor ein gefragter Experte zu Themen wie Eurokrise, Brexit, Migration – aber auch grüne Energie. In seinen Vorträgen äußert er sich immer wieder kritisch zur deutschen Energiewende. Zum Oktoberbeginn 2019 sorgte sein Vortrag „Die Grenzen der Deutschen Energiewende“ an der Cottbuser Universität für einen überfüllten Hörsaal. Das „Lausitz Magazin“ sprach mit Prof. Hans-Werner Sinn über Klimapolitik, Energiewende und die Chancen der Lausitz.

Aus unserer Redaktion. — Dresden, 11. Oktober 2020

Herr Sinn, Sie sprachen bereits vor vier Jahren von der „Energiewende ins Nichts“, fällt Ihre Einschätzung heute, nach vielen Klimakabinettsitzungen und einem Klimapaket, milder aus?

Nein. Der Versuch, die Räder der Industriegesellschaft mit Windflügeln zu drehen, ist nicht fundiert und nicht überzeugend. Die Natur wird verschandelt und es kommt ein flatterhafter Strom ins Netz, den man nicht einmal bedarfsgerecht regulieren kann. Der grüne Strom ist für das Netz in etwa so, als würde Ihnen ein Restaurantbesitzer das Angebot machen, das Candlelight Dinner zum Frühstück zu servieren. Er ist ziemlich wertlos.

Finden Sie, dass die Energiewende nach marktwirtschaftlichen Prinzipien richtig gesteuert wird?

Zuerst einmal ist das keine marktwirtschaftliche Angelegenheit. Der Markt versagt offenkundig angesichts der Klima-Externalität. Es bedarf der Eingriffe des Staates zur Kontrolle und Veränderung des Marktverhaltens. Entscheidend ist aber, ob das wirkungsvoll und effizient geschieht. Hier gibt es viele offene Fragen: Angefangen vom deutschen Emissionshandel bis zur Sinnhaftigkeit eines europäischen oder gar deutschen Alleingangs.

Ihre Thesen gelten laut Medien nicht selten als umstritten, was halten Sie eigentlich von der Berichterstattung deutscher Medien rund um Energiewende und Klimaschutz, hilft sie beim Verständnis der komplexen Materie?

Die Berichterstattung in den Medien ist mir zu sehr auf die Nachfrageseite nach fossilen Brennstoffen ausgerichtet. Damit der CO2-Ausstoß reduziert wird, müssen wir auch das weltweite Angebot in den Blick nehmen. Da geht es um die Ölscheichs, die Kohlebarone und die Gas-Oligarchen. Deren Verhalten entscheidet. Was sie an Kohlenstoff aus der Erde herausholen, und bei allen diesen fossilen Brennstoffen geht es um Kohlenwasserstoffe, das geht dann auch in die Luft und löst die Erderwärmung aus. Es nützt nichts, wenn eine Teilmenge der Länder der Welt die Nachfrage nach diesen fossilen Brennstoffen reduziert. Das allein senkt lediglich den Weltmarktpreis und andere Länder werden in die Lage versetzt, sich für einen günstigeren Preis umso mehr kaufen zu können. Wenn also die Mengen, die wir nicht verbrauchen, auf der Erde nur anderswo hingelenkt und dort verbraucht werden, dann ist für das Klima nichts gewonnen.

Gerade in der Lausitz wird die Debatte um Klimaschutz und Kohleausstieg sehr differenziert geführt, wie stehen Sie zum deutschen Kohleausstieg und seiner zeitlichen Dimension?

Ein koordinierter Ausstieg aus der Kohle ist weltweit unerlässlich. Ein unilateraler Ausstieg nur einer Teilmenge von Ländern ist problematisch, weil die Industrien sich dann aus diesen Ländern möglicherweise in andere Länder verlagern, die nicht solche Standards haben – und dort wird dann umso mehr Kohlenstoff emittiert.

Sie haben darauf hingewiesen, dass grüner Strom nicht ohne konservativen Strom funktioniert, wie wollen wir in Deutschland dann gleichzeitig aus konventionellen Kraftwerken aussteigen und Erneuerbare ausbauen?

Man kann zwar Kohle- durch Windenergie, aber nicht konventionelle Kraftwerke durch Windanlagen ersetzen. Was ich damit meine: Die Unstetigkeit für den Wind und auch für den Sonnenstrom ist so groß, dass zur Sicherung der Versorgung in den Dunkelflauten stets die bisherige Kapazität der konventionellen Anlagen vorgehalten werden muss. Die konventionellen Anlagen müssen zwar nicht produzieren, wenn Wind und Sonne ausreichend Energie liefern. Ist das aber nicht der Fall, müssen sie sofort in der Lage sein, Ersatzstrom zu liefern. Wir können keine Kraftwerke abbauen und kein Personal einsparen, das zur Bereitschaft dieser konventionellen Kraftwerke notwendig ist. Wir können nur die Kohle einsparen, und auch das nur zum Teil, und zwar nur in dem Maße, wie der Wind weht und die Sonne scheint. Denn leider haben wir keine Speichertechnologien, um grünen Strom aus wind- und sonnenreichen Jahreszeiten in die Flauten hinein zu transportieren.

Wenn Energie aus Wind und Sonne keine realistische Lösung für die Energiewende bieten, warum setzt Deutschland dennoch vehement auf den Ausbau dieser Erneuerbaren? Können sich denn so viele beteiligte Lenker und Denker an der Umsetzung der Energiewende tatsächlich so sehr irren?

Deutschland kann jetzt nur noch in die Erneuerbaren gehen, weil es schon beschlossen hat, aus der Atomkraft auszusteigen. Das war für meine Begriffe eine überhastete und falsche Entscheidung. Wir verzichten damit auf eine CO2-freie und sehr ergiebige Energiequelle, die durchaus hätte ausgebaut werden können, um den Verkehr zu elektrifizieren und auch für Heizungszwecke zur Verfügung zu stehen. Diesen Weg haben wir uns verbaut, und müssen ihn nun durch Windflügel und Solaranlagen ersetzen. Die sollen aber auch noch Teile der fossilen Stromproduktion ersetzen. Das ist ein extrem schwieriges Unterfangen, das wahrscheinlich nicht gelingen wird.

Halten Sie das nur für extrem schwierig oder für komplett unrealistisch?

Ich bin kein Semantiker. Ich meine, was ich sage.

Wo sehen Sie eigentlich den Strompreis in Deutschland in fünf Jahren?

Die Politik erwägt, die Verteuerung des Stroms infolge der Doppelstrukturen, die der grüne Strom mit sich bringt, im Steuersystem zu verstecken. Wenn diese Versteckaktionen nicht gelingen, wird der Strompreis weiter steigen. Wir haben in den letzten Jahren bereits einen massiven Anstieg der Strompreise durch die grünen Energien beobachtet. Deutschland hat heute europaweit und vermutlich auch weltweit unter allen entwickelten Ländern die höchsten Strompreise. Das ist bereits ein erhebliches Standortrisiko. Ich befürchte, dass es weiter in diese Richtung geht. Man kann das nicht so machen und darf die Leute nicht weiter belügen, indem man vom sauberen und billigen grünen Strom spricht. Das negiert, dass die fossilen Anlagen alle stehenbleiben müssen, um als Komplemente des Wind- und Sonnenstroms die Lücken zu füllen, wenn es Dunkelflauten gibt. Man kann mit diesem Strom kein einziges Kraftwerk einsparen. Die Kraftwerke müssen bleiben, auch wenn sie weniger laufen. Aber die Fix- und Personalkosten fallen weiter an und das macht den Strom teurer.

Im Verkehr hat sich Deutschland mit den aktuellen Klimaschutzgesetzen für Elektroautos als eine zentrale Lösung der deutschen Verkehrswende entschieden. Sie setzen deren Wirkung für den Klimaschutz gleich Null, warum?

Weil einschlägige Rechnungen zeigen, dass beim derzeitigen deutschen Energiemix die Elektroautos nicht sauberer sind als Dieselautos. Das Problem bei den Elektroautos ist ja auch noch, dass die Batterieproduktion, die meist in China erfolgt, extrem CO2-intensiv ist und somit ein derart großer CO2-Rucksack beladen wird, dass ein Elektroauto sehr lange fahren muss, um einen Gleichstand beim CO2-Ausstoß mit dem vergleichbaren Dieselfahrzeug zu erreichen. Nach einer aktuellen Studie des ADAC, die gerade im Herbst veröffentlicht wurde, müsste ein e-Golf 219.000 Kilometer laufen, bis er bezüglich des CO2-Ausstoßes mit einem Golf Diesel gleichziehen würde. Das ist aber länger, als die Autos im Durchschnitt leben. Nun ist das eine Momentaufnahme. Wir wollen in Zukunft mehr grünen Strom haben, da mag sich dieses Verhältnis verändern. Aber wo soll der grüne Strom herkommen? Die Windanlagen zu bauen, stößt zunehmend auf Bürgerproteste – inzwischen über tausend Initiativen gegen Windflügel in unserem Land. Das bringt Windkraft jetzt schon an Grenzen. Wir benötigen den Windstrom aber zunächst, um die Atomkraft, aus der wir ja noch aussteigen, zu ersetzen. Dann muss man die Kohlekraft ersetzen. Und dann sollen die Autos noch elektrisch laufen. Das wird vorläufig nicht funktionieren.

Deutschland will dennoch die Automobilbranche umbauen. Wie werden sich Ihres Erachtens die aktuell diskutierten Gesetze rund um den Klimaschutz auf die deutsche Industrie auswirken?

Deutschland hat sich gegenüber der EU und auch im Pariser Abkommen verpflichtet, den CO2-Ausstoß gegenüber 2005 noch einmal um 38 % zu verringern. Das bedeutet gegenüber 1990, dem ursprünglichen Basisjahr, eine Verringerung auf ungefähr die Hälfte. Wenn wir das nicht schaffen, müssen wir Strafen zahlen. Die EU hat viele harte Festlegungen vorgenommen, die Ländern wie Frankreich, die vom Atomstrom leben oder den skandinavischen Ländern mit ihren Möglichkeiten in der Wasserkraft nicht weh tun. Ein Industrieland wie Deutschland ist hingegen deutlich betroffen. Wir benötigen Unmengen Strom und verfügen weder über Atomstrom noch Wasserkraft in hinreichender Menge.

Sind diese EU-Strafzahlungen nicht zu verkraften, wenn die Wirtschaft im Land gut läuft?

Die Strafzahlungen kann sich Deutschland nicht erlauben. Es kommen ja noch die Strafzahlungen für die Autos hinzu. Wenn die Automobilhersteller ihre Autos weiter so bauen wie bislang, dann müssten sie bei den größeren Autos künftig an die EU eine Strafe von bis zu 10.000 Euro pro Auto bezahlen. Das geht nicht. Sie müssen, um wettbewerbsfähig zu bleiben, jetzt wohl oder übel den Anteil der E-Autos vergrößern. Denn die E-Autos werden in der Formel der EU mit einem CO2-Ausstoß von Null verbucht. Dass dies eine Mogelpackung ist, habe ich bereits ausgeführt.

Halten Sie die Deutschen Klimaschutzziele samt Dekarbonisierung bis 2050 und den Erhalt von Wohlstand und Wirtschaft für vereinbar?

Es ist eine sehr große Herausforderung. Ich halte die CO2-Richtlinie nicht mit Wohlstand und wirtschaftlicher Entwicklung vereinbar. Die Vorhaben laufen auf eine Dezimierung der deutschen Automobilindustrie hinaus.

Unter dem Begriff „grünes Paradoxon“ haben Sie eine Erkenntnis veröffentlicht, wonach die mit immensen Kosten erreichten Emissionsminderungen in Deutschland und der EU weltweit tatsächlich nur zu mehr Emissionen führen, was sagen Kollegen aus der Wissenschaft, was die Politik zu dieser These?

Die Politik beschäftigt sich damit überhaupt nicht. In der Wissenschaft ist das grundsätzlich anerkannt. Das ist keine These, sondern eine Selbstverständlichkeit, dass die Ressourcenbesitzer angesichts des grünen Säbelrasselns die Extraktion ihrer fossilen Brennstoffe vorziehen. Selbst Vattenfall hat bei der Förderung der Braunkohle in der Lausitz wahrscheinlich den gesetzlich möglichen Extraktionsrahmen ausgenutzt, wohlwissend, dass in Kürze grüne Bewegungen ein Verbot der Braunkohleextraktion bewirken könnten. Das ist dieser Vorzieheffekt, der mit dem grünen Paradoxon gemeint ist. Deutschland ist der größte Produzent von Braunkohle weltweit, obwohl es nur über relativ kleine Bestände im Vergleich etwa zu den USA, Russland oder Australien verfügt. Das ist erklärbar mit der Angst vor dem drohenden Verbot. Der Vorzieheffekt war offenkundig.

Sind Sie in diesem Zusammenhang der Meinung, dass Deutschlands Ausstieg aus der Braunkohle Vorbildwirkung für die Welt hat?

Nein, er hat keine Vorbildwirkung, das gäbe zu viel Hoffnung. Ich befürchte, er wird abschreckend wirken, denn wer will schon seine Industrie kaputt machen. Sparmaßnahmen machen nur dann Sinn, wenn man über Mittel verfügt, auch die anderen Länder zum Sparen zu zwingen. Eine unilaterale Einschränkung ist solange sinnlos, wie es auf der Welt Märkte gibt, die eine Verlagerung der Industrien in schmutzigere Länder ermöglichen.

In Ihrem Cottbuser Vortrag haben Sie mit moderner Atomkraft und Aufforstung sowie CO2-Speicherung zwei eher technische und mit einer Quellensteuer und einem weltweiten Emissionshandel zwei ökonomische Stellschrauben für den Klimaschutz aufgezeigt, welche halten Sie kurzfristig, welche mittelfristig tatsächlich für realisierbar?

Das kommt auf die Betrachtung an. Rein technisch und ökonomisch gesehen bräuchten wir die Atomkraft einfach nicht abzuschalten. Im politischen Sinn funktioniert das wohl nicht, denn die Deutschen brauchen etwas mehr Nachdenkzeit, bis sie umdenken. Das wird noch eine Generation von Politikern dauern. Der weltweite Emissionshandel ist sicher die vielversprechendste ökonomische Möglichkeit. Ich bin der Überzeugung, wir müssen diesen Weg gehen. Es nützt nichts, irgendetwas zu tun, was nicht wirkt. Wir müssen stattdessen alle Kräfte darauf konzentrieren, etwas Wirkungsvolles zu tun. Deshalb erhoffe ich mir für das Nachfolgeabkommen zum Pariser Abkommen, dass nicht nur Selbstverpflichtungen ohne Strafen ausgesprochen werden, sondern dass sich die Länder der Welt auf einen weltweiten Emissionshandel einigen, in dem eine weltweite Obergrenze der Emissionen festgelegt wird. Erst dann hat man eine wirksame Politikmaßnahme gefunden. Unilaterale Selbstzerfleischungen einzelner nationaler Industrien führen zu Nichts. Im Zweifel erzeugen sie eine Gegenbewegung, die Notwendigkeiten zum Klimaschutz nicht mehr anerkennt. Das ist die Gefahr, die ich auch in Deutschland sehe.

Auch Herr Edenhofer bezeichnete in seinem Vortrag in der Reihe „Open BTU“ ein gemeinsames, globales Handeln wie bei einem weltweiten Emissionshandel als Grundvoraussetzung – was können Ihres Erachtens Deutschland und die EU unternehmen, um Klimaschutz global und auch gemeinsam mit Asien, Afrika und den USA zu gestalten?

Es gibt den guten Vorschlag von Nobelpreisträger William Nordhaus, einen Klima-Club einzurichten. Das ist ein Club der Länder, die sich an einem globalen Emissionshandel oder anderen Maßnahmen beteiligen. Diese Länder würden dann gegenüber anderen Ländern, die sich nicht beteiligen, Zollschranken errichten, verbunden mit der Einladung, dem Klima-Club beizutreten. Wenn dieser Club ökonomisch hinreichend groß und attraktiv ist, dann kann das funktionieren. Ich wage zu bezweifeln, dass Europa allein groß genug für eine solche Möglichkeit ist. Aber wenn die USA und China mitmachen würden, dann hätte das große Anziehungskraft auf alle restlichen Länder der Welt. Ich halte das nicht für unmöglich. Wir sind im Pariser Abkommen schon weit gekommen und ich kann mir vorstellen, dass wir einen nächsten Schritt auch noch schaffen.

In Deutschland wurde lange über das Für und Wider von Emissionshandel und CO2-Bepreisung gestritten. Was halten Sie von einem spürbaren CO2-Preis als Katalysator für technischen Fortschritt?

Das schlagen ja die Ökonomen vor. Es geht nur so. Es macht überhaupt keinen Sinn, dies über technische Anordnungen wie die CO2-Richtlinie der EU steuern zu wollen. Das ist eine neodirigistische Wirtschaftspolitik, vor der man nur warnen kann. Es geht nur über einen CO2-Preis, der sich durch einen Emissionshandel bildet. Dieser Preis muss dann einheitlich auf der Welt sein, und alle CO2-Emittenten werden sich anstrengen, den CO2-Ausstoß zu verringern, um Kosten z.B. für Zertifikate einzusparen. Jeder würde aus eigenem wirtschaftlichem Interesse bis zu dem Punkt gehen, an dem Vermeidungskosten für eine weitere Tonne CO2 gleich dem CO2-Preis sind. So ermöglicht dieser Preis eine weltweite Koordination der Vermeidungsanstrengungen. Das daraus resultierende Ergebnis ist durch technische Anordnungen nicht mehr zu übertreffen, sondern allenfalls zu verschlechtern. Insofern sind sich alle Ökonomen einig, dass das Gesetz des einen Preises, das übrigens das Hauptgesetz der Ökonomie ist, für eine Ware – in diesem Fall für das Ungut CO2 – eingehalten werden muss, um eine effiziente weltweite Steuerung zu erreichen.

Eine weitere Ihrer vier Lösungen betrifft den Bereich der Speicherung. Hier war die Lausitz mit CCS bereits einen Schritt weiter – sehen Sie CCS und CCU auch für die Kohleemissionen zumindest als eine temporäre Lösung an, die in Deutschland wieder diskutiert und entwickelt werden sollte?

Natürlich. Man muss tun, was man kann. Das Problem bei der Kohle ist allerdings, dass bei der Verbrennung mehr CO2 entsteht als Kohle verbrannt wurde, da sich der Sauerstoff mit der Kohle verbindet und dann ja auch mitgespeichert werden muss. Aus einem Kubikmeter Steinkohle resultieren nach der Verbrennung fünf Kubikmeter flüssiges CO2. Das gibt einen Eindruck von der Größenordnung des Problems. Selbst wenn wir alle verfügbaren Kohleminen unter der Erde mit CO2 befüllen, könnten wir nur ein Fünftel des durch den Abbau dieser Minen entstehenden CO2 unterbringen. Es gibt sicher viele weitere Kavernen. In einer Studie des IPCC stellte sich aber heraus, dass die Summe aller weltweit verfügbaren Kavernen inklusive entleerter Lagerstätten nur für einen Bruchteil des global noch verfügbaren Kohlenstoffs ausreichen würde, wenn man diesen extrahieren und verbrennen würde. Eine solche Strategie könnte dennoch über ein paar Jahrzehnte einen Beitrag liefern, dann muss die Menschheit über andere Lösungen verfügen.

Bei Speichern wird derzeit vor allem über die Wasserstofftechnologie gesprochen, auch in der Lausitz. Was muss Deutschland für die Entwicklung tun und wie lässt sich mit Blick auf Solar und Windkraft verhindern, dass unser Land erneut subventioniert und entwickelt, die nachhaltige Wertschöpfung im internationalen Wettbewerb dann aber anderswo auf der Welt stattfindet?

Bei Wasserstoff handelt es sich um keine Primärenergie. Man muss Wasserstoff aus Strom machen. Letztendlich ist das nichts anderes als eine Batterie zur temporären Speicherung von Energie. Aber es ist eine Speichertechnologie, die durch die Verbindung von Wasserstoff mit CO2 die Herstellung synthetischer Kraftstoffe ermöglicht. Diese könnten im Verkehr dann weiterhin von Verbrennungsmotoren benutzt werden. Dort einseitig auf Batterien zu setzen, ist sicher ein Fehler. Deutschland war bei der Brennstoffzellentechnologie und der Wasserstoffwirtschaft schon recht weit und hat das früher als andere Länder entwickelt. Das ist dann eingeschlafen, inzwischen wird das in Korea und Japan wieder forciert. Wir sollten uns hier beeilen, dass wir nicht den nächsten Zug verpassen. Aber auch hier gilt es, realistisch zu bleiben. Der Energieverlust bei der Stromspeicherung über Wasserstoff ist sehr groß. Für mich spricht das alles dafür, den Ausstieg aus der Atomkraft zu überdenken. Haben wir Atomstrom, können wir auch Wasserstoff günstig produzieren, denn die Elektrolyse-Anlagen brauchen einen kontinuierlichen Strom. Mit dem grünen Zappelstrom können auch sie nicht viel anfangen.

Und wie kann unser Land sich nachhaltige Wertschöpfung aus solchen Technologien im eigenen Land sichern?

Beim Wasserstoff haben wir noch alle Chancen, wenn wir jetzt kräftig investieren. Deshalb halte ich es für problematisch, wenn im Automobilbereich so einseitig auf Batterien gesetzt wird.

Wir haben viel über Klimaschutz gesprochen, dabei wird meist auf den Konsens aller Wissenschaftler verwiesen, dass jetzt und schnell gehandelt werden muss – existiert in der Wissenschaft tatsächlich kein Diskurs mehr zum menschgemachten Klimawandel?

Natürlich gibt es einen Diskurs. Aber die Evidenz ist doch erdrückend. Insofern halte ich es nicht für zielführend, diese Diskussion so ernst zu nehmen, wie manche es tun. Den Klimaeffekt der Treibhausgase gibt es und jeder spürt ihn, wenn er auf einen Berg steigt. Oben ist es kühler als unten. Das liegt nicht in erster Linie am CO2, sondern am Wasserdampf. Der aber ist, abhängig von der Temperatur, gesättigt in der Atmosphäre vorhanden und kann vom Menschen nicht direkt beeinflusst werden, weil der Überschuss an Wasser abregnet. Der CO2-Gehalt der Atmosphäre lässt sich aber vermehren, und er tritt zum Klimaeffekt des Wassers hinzu. Die Atmosphäre erwärmt sich daraufhin und nimmt dann auch noch mehr Wasser auf, was den Primäreffekt des CO2 noch verstärkt.

Vor etwas über zehn Jahren gab es rund um Klimaschutz schon einmal einen Medienhype – diesmal scheint sich das Thema intensiver und länger zu halten. Halten Sie die aktuelle Erregung dennoch für eine Mode oder hat das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zugenommen?

Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit bewegt sich in Modewellen. Es ist jetzt die dritte Klimawelle, die wir erleben. Wir hatten das in den 1980er Jahren erstmals, dann schlief es ein, vor rund zehn Jahren kochte das Thema mit dem Stern-Report wieder hoch. Dann kam die Finanzkrise, und mit ihr andere Sorgen. Jetzt erleben wir die dritte Klima-Welle. Die Gesellschaft kann sich nur mit einem großen Thema in einer Zeit beschäftigen, im Moment ist es das Klima. In einem Jahrzehnt wird es eine Gegenbewegung geben, weil die Menschen sich zunehmend gegen die Einschränkungen ihrer Lebensstandards wehren werden. Aber da sich die Erde zwischenzeitlich weiter erwärmt, wird dann irgendwann auch das Klimathema wieder hochkommen, und zwar noch heftiger.

Welchen Rat haben Sie für die Lausitz im Wandel zu einer Energieregion der Zukunft?

Die Lausitz hat natürlich ein Strukturproblem. Ob die Strukturhilfen ausreichen, weiß ich nicht. Insgesamt ist es für die Region eine bedauerliche Entwicklung. Ich kann nur raten, bei der Politik insofern Druck zu machen, dass man den Abbau der deutschen Kohleförderung doch bitte abhängig von einer weltweiten Koordinierung macht. Das ist leider nicht hinreichend der Fall.

Könnten Wasserstofftechnologien der Lausitz wirtschaftlichen Ersatz sichern?

Wir haben in den neuen Bundesländern vergleichsweise viel Windstrom und diesen Windstrom könnte man koppeln mit einer Wasserstofftechnologie. Erfolgreicher wäre eine Rückbesinnung auf den Atomstrom. Heute kann man viel sicherere Kraftwerke bauen als früher. Die Graphitreaktoren vom Tschernobyl-Typ sind ausgestorben, und Tsunamis gibt es in Deutschland nicht. Noch sind Restbestände an geistiger Kapazität vorhanden, die einen Neubeginn ermöglichen würden.

DIE QUELLE

„Ein extrem schwieriges Unterfangen“. Interview mit Hans-Werner Sinn, Nationalökonom und Finanzwissenschaftler. Aus dem „Lausitz Magazin“. Ausgabe 12 | Winter 2019/2020 als PDF. Seiten 62 bis 65. Wir dürfen den Volltext mit freundlicher Genehmigung von Herrn Jens Taschenberger (Lausitz Magazin) übernehmen und danken herzlich für diese großzügige Möglichkeit im Namen unserer Vereinsmitglieder und Webseitennutzer.

DER INTERVIEW-PARTNER

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn, emeritierter Professor an der Ludwigs-Maximilians-Universität und ehemaliger Präsident des ifo Instituts, ist einer der renommiertesten deutschen Ökonomen.

DIE INTERVIEW-SERIE

Im Juli 2020 wurden die Gesetze rund um Strukturstärkung und Kohleausstieg beschlossen und inzwischen veröffentlicht. Mit einer Interview-Serie nimmt deshalb das „Lausitz Magazin“ den „Reviertransfer Lausitz“ unter die Lupe. Namhafte Ökonomen und Wissenschaftler reden hier Klartext. Sie stellen Argumente und ernsthafte Bedenken zur Energiewende und zum Strukturwandel vor, die man nicht täglich in der Zeitung liest oder im Radio hört.

DAS LAUSITZ-MAGAZIN

Das „Lausitz Magazin“ wird von Jens Taschenberger und Leif Scharroba, den Geschäftsführern der Lausitz Medien – Verlagsgruppe für Crossmarketing, herausgegeben. Als „Magazin für Entscheider, Gesellschaft & Strukturentwicklung“ richtet es sich an Entscheider, Meinungsbildner und Multiplikatoren in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Das Lausitz Magazin begleitet als erstes Business- und Gesellschaftsmagazin für die gesamte Lausitz die Strukturentwicklung einer Region im Wandel. Es bietet Lesern einen Themenmix auf hohem Niveau mit dem Schwerpunkt der Strukturentwicklung der Lausitz. Es liefert aber ebenso wertvolle Beiträge und gute Unterhaltung in Rubriken wie Mode, Gesundheit, Mobilität, Wohnen und Immobilien oder Lebensstil und Kultur sowie Veranstaltungshöhepunkte. Das Lausitz Magazin erscheint mit 10.000 Exemplaren je Quartal. Hier können die erschienenen Ausgaben als PDF eingesehen und heruntergeladen werden: https://www.lausitz-medien.de/print/lausitz-magazin

LITERATUR-TIPP

Hans-Werner Sinn über die dramatischen Irrtümer der Umweltpolitik: Scharfsinnig und mit schlagenden Argumenten beschreibt Hans-Werner Sinn das grüne Paradoxon. Mit seiner ökonomischen Betrachtung des Klimaproblems beseitigt der Bestseller-Autor die blinden Flecken in einer wichtigen Debatte. Nicht wir Deutschen haben es in der Hand, wie schnell sich die Erde erwärmt, sondern die Ölscheichs. Der Glaube, wir könnten das Klima retten, wenn wir im Alleingang Energie einsparen, ist pure Illusion. Denn wenn die Scheichs den Hahn nicht zudrehen, senken wir mit unserer Sparsamkeit nur den Weltmarktpreis für Öl – und ein Effekt kann dafür sorgen, dass sogar noch mehr Öl gefördert wird und sich die Erde noch schneller erwärmt: das grüne Paradoxon.
Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon
Hans-Werner Sinn: Das grüne Paradoxon. Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik. Econ: Berlin, 2008, 480 S, gebunden, ISBN: 9783430200622, 24,90 €. Taschenbuch: Vollständig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe im Ullstein Taschenbuch, 1. Auflage März 2012, 576 S., ISBN: 978-3-548-37396-6, 16,99 €.

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