Michael Stöcker: SERIE (3) Über den Sinn und Zweck von Staatsschulden

— Foto: © Bildarchiv der Deutschen Bundesbank

Gesamtverschuldung versus Neuverschuldung

Im heutigen Beitrag wollen wir uns ansehen, wie es um die Verschuldungssituation in Deutschland sowie im Rest der Welt bestellt ist und welche Vorstellungen es zur maximalen Verschuldungshöhe gibt.

Von Michael Stöcker. — Dresden, 6. Januar 2021

Die durch Corona bedingten Sonderausgaben und Mindereinnahmen lassen das Haushaltsdefizit in diesem Jahr allein in Deutschland auf vorläufig 180 Mrd. EUR ansteigen. Viele Menschen machen sich hierüber große Sorgen und fragen sich, wo das noch enden soll. Die folgende Beitragsserie soll ein wenig Licht in die aktuelle Schulden-Debatte bringen und die Bedeutung von Staatsschulden aus der emotionalen Ecke herausholen und auf eine rationale makroökonomische Ebene heben. Und um es gleich vorweg zu nehmen: Nichts/Wenig ist so, wie es auf den ersten Blick scheint.

■ Im ersten Teil dieser Beitragsserie ging es um den Begriff der Schuld und welche Bedeutung Schulden für unser Geldsystem haben.

■ In Teil zwei sind wir genauer auf den Unterschied zwischen staatlichen und privaten Schulden eingegangen.

■ Im dritten Teil schauen wir uns an, wie es um die Verschuldungssituation in Deutschland sowie im Rest der Welt aktuell bestellt ist und welche Vorstellungen es zur maximalen Verschuldungshöhe gibt.

■ In Teil vier werden wir dann analysieren, welche Vorschläge zur Schuldenstabilisierung oder zur Schuldenreduktion welche Konsequenzen haben werden.

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Grundsätzlich müssen wir zwischen der Neuverschuldung sowie der Gesamtverschuldung unterscheiden. Zudem ist es in den meisten Fällen wenig hilfreich, mit absoluten Zahlen zu argumentieren, sondern immer nur mit relativen Zahlen. Denn selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob Deutschland mit seinen 82 Millionen Einwohnern 1,9 Billionen Euro Schulden hat oder aber Spanien mit lediglich 60 Millionen Einwohnern. Neben der Einwohnerzahl spielt zudem das Bruttoinlandsprodukt eine große Rolle, weil z. B. Deutschland mit einem relativ hohen BIP (4.000 Mrd. USD) deutlich produktiver ist (Faktor 5,2) als die bevölkerungsmäßig etwa gleichgroße Türkei (761 Mrd. USD). Insofern sollte man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen und die Staatverschuldung immer in Relation zum BIP setzen.

Die staatliche Neuverschuldung ergibt sich aus der Differenz der laufenden Staatsausgaben und der Staatseinnahmen. Diese Stromgröße wird auch als Haushaltsdefizit bezeichnet. Die staatliche Gesamtverschuldung ist hingegen eine Bestandsgröße, die sich über die Jahre aufgebaut hat.

Optimale Höhe der Verschuldung

Über die optimale Höhe der Staatsverschuldung gibt es in der Wissenschaft keine Einigkeit. Im Vertrag von Maastricht wurden seinerzeit 3 % für die Neuverschuldung festgelegt sowie 60 % für die Gesamtverschuldung. Während die 3 % noch relativ gut zu begründen sind (2 % Zielinflation sowie 1 – 2 % Wirtschaftswachstum), hat man die 60 % einfach aus dem Durchschnittswert der damaligen Gesamtverschuldung der Länder der EU ermittelt (mehr dazu hier).

Berühmt und zugleich berüchtigt wurde dann die magische Grenze von 90 %, die im Jahre 2010 von den Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart in die Diskussion gebracht wurden (mehr dazu hier).

Fakt ist aber, dass Japan diese magische Grenze bereits vor über 25 Jahren überschritten hatte und bis heute die Gesamtverschuldung auf 266 % angewachsen ist. Es müssen also weitere Faktoren eine wichtige Rolle spielen, sodass eine alleinige Fokussierung auf nur eine Größe wenig hilfreich ist bei der Suche nach einer Antwort zur optimalen Schuldenhöhe.

Grundsätzlich kann man festhalten, dass sich Staaten höher verschulden können, die folgende drei Eigenschaften erfüllen:

  1. Hohes BIP pro Kopf, sodass den hohen Schulden auch ein hohes Einkommen und Vermögen gegenüber steht.
  2. Ausgeglichene Leistungsbilanz oder Leistungsbilanzüberschüsse, sodass ein Land bei seiner eigenen Bevölkerung verschuldet ist und nicht gegenüber dem Ausland; denn somit verbleiben die Zinszahlungen auf die Schulden im eigenen Land und stehen dort wieder für Investitionen und Konsum zur Verfügung.
  3. Investive Ausgaben (Bildung, Infrastruktur...) statt konsumtiver Volksbeglückung (Sozialleistungen, Rente, Löhne …).

Insbesondere die ersten beiden Aspekte treffen z. B. auf Japan zu, aber auch auf Deutschland und die Schweiz. Für Schwellenländer wie die Türkei oder Argentinien können hingegen schon Schuldenstände über 40 % zu einem schmerzhaften Problem werden, zumal diese Länder nicht in ihrer eigenen Währung verschuldet sind, sondern auf Dollarbasis und somit abhängig sind von der amerikanischen Geld- und Zinspolitik (mehr dazu hier). Wenn dann auch noch die Leistungsbilanz negativ wird, weil die Schulden die Importe anfeuern, sind auch relativ geringe Schuldenstände von 40 oder 50 % untragbar, zumal diese Länder in der Regel deutlich höhere Risikoaufschläge zahlen müssen als reife Industrieländer und zugleich ihre Währungen unter ständigem Abwertungsdruck stehen, was die Schuldentragfähigkeit zusätzlich verschlechtert.

Zinsen und Schuldentragfähigkeit

Insofern macht es wenig Sinn, den Schuldenstand unabhängig von der Zinssituation und der Zinsentwicklung zu betrachten. Um beim Beispiel Japan zu bleiben: Die Schulden haben sich in den letzten 30 Jahren massiv erhöht, die Zinszahlungen auf die Staatsschulden haben sich aber dennoch deutlich reduziert. Lagen die Zinszahlungen auf die bestehenden Staatschulden in den 90er Jahren noch bei ca. 19 % des BIP, so haben sich diese Werte trotz Verdopplung der Staatsschulden auf 10,8 % beinahe halbiert. Und: Japan ist wegen seiner persistenten Leistungsbilanzüberschüsse bei seiner eigenen Bevölkerung verschuldet.


source: tradingeconomics.com

Damit sollte zugleich klar sein, dass die Schuldentragfähigkeit insbesondere an der Zinshöhe festzumachen ist. Und dieser Trend ist seit 30 Jahren eindeutig auf dem Weg nach unten; und zwar weltweit (mehr dazu hier).

Staatsschulden im internationalen Vergleich

In den folgenden Grafiken sind die Werte zum Schuldenstand (General government debt), der Neuverschuldung (General government deficit) sowie der Schuldenentwicklung der G7 Staaten zzgl. der Schweiz dargestellt. Warum die Schweiz in der Betrachtung berücksichtigt wird, werden wir weiter unten sehen.

Aufgrund der massiven staatlichen Unterstützungsleistungen durch COVID 19 werden die Schuldenstände 2020 und 2021 stark ansteigen. So erreicht z. B. das Budgetdefizit in den USA einen Rekordwert von 14,9 % und ist somit etwa doppelt so hoch wie das deutsche Defizit. Allerdings sind auch konservative Ökonomen mehrheitlich der Meinung, dass dies eine notwendige Maßnahme ist, um einen Totalabsturz der Wirtschaft zu verhindern (mehr dazu in Teil 4).

Wer macht die Schulden?

An dieser Stelle möchte ich nochmals in Erinnerung rufen, dass Geld ein Schuldverhältnis ist und zusätzliches Geld nur dann in Umlauf gelangen kann, wenn auch zusätzliche Schulden gemacht werden. Neben dem Staat sind dies die privaten Haushalte sowie die Unternehmen oder aber auch das Ausland.

Wodurch entstehen Finanzkrisen?

Die Finanzkrise 2007/2008 hatte ihre Ursache nicht in zu hoher staatlicher Verschuldung, sondern es waren die Schulden der privaten Haushalte, die diese Krise verursacht hatten; und zwar sehr ähnlich zur Situation in Japan 1990 (mehr dazu hier und hier). Von daher wollen wir nun den isolierten Blick weg von den staatlichen Schulden hin zu den privaten Schulden wenden. Und da kommt nun insbesondere die Schweiz ins Spiel, die bei den Schulden der privaten Haushalte nur noch von den Niederlanden sowie Dänemark übertroffen wird; alles Länder, die als sehr solide gelten:

Anders als in den obigen Grafiken sind die Schulden in dieser Grafik nicht in Relation zum BIP gesetzt, sondern in Relation zum verfügbaren Einkommen, da die OECD diese Daten nicht aufbereitet zur Verfügung stellt. Dennoch sind sie ein guter Maßstab für eine Einschätzung der Gesamtverschuldungssituation eines Landes.

Betrachten wir die staatlichen Schulden, die Schulden der privaten Haushalte sowie der nichtfinanziellen Unternehmen gemeinsam, dann befindet sich das angeblich so unsolide Italien bei der Gesamtverschuldung nämlich auf Augenhöhe mit der Schweiz (IT 248 %, CH 283 %). Anders als in Italien oder auch Japan, ist in der Schweiz nicht der Staat für den größeren Teil der umlaufenden Geldmenge verantwortlich, sondern es sind die privaten Haushalte, die insbesondere ihre Immobilien mit sehr hohen Krediten beliehen haben (mehr dazu hier).

Damit eine Wirtschaft reibungslos funktioniert, muss es immer ausreichend Schuldner geben, die für eine Geldmengenkontinuität sorgen (siehe hierzu Teil 1: Der kurzfristige und der langfristige Schuldenzyklus). Nur weil sich in der Schweiz der private Sektor so stark verschuldet hat, konnte sich der Staat beim Schuldenmachen zurückhalten. Das muss aber nicht auf Dauer so bleiben. Japanische Verhältnisse können auch in der Schweiz oder den Niederlanden eines Tages Wirklichkeit werden. Warum? Wenn sich der private Sektor aus der Finanzierung zurückzieht und seine Schulden abbaut, dann muss bzw. sollte der staatliche Sektor diese Lücke füllen, damit es nicht zum ökonomischen Zusammenbruch kommt. So einfach sind letztlich die ökonomischen Regeln in einer Geldwirtschaft. Das müssen auch die Eidgenossen noch lernen, bevor es zu spät ist.

Sondersituation Deutschland

Deutschland zählt in der EU zu den Ländern mit der niedrigsten privaten und öffentlichen Verschuldung. Der private Sektor ist mit 113,6 % verschuldet und der öffentliche Sektor mit 59,6 %.

Wie lässt sich dieser Sachverhalt erklären?

Anders als dies von führenden deutschen Politikern gerne kolportiert wird, hat dies nur sehr wenig mit einem soliden Haushalten zu tun, sondern vielmehr mit den hohen Leistungsbilanzüberschüssen und somit letztlich mit der Verschuldung des Auslands. Ohne die hohen Leistungsbilanzüberschüsse wären nämlich Wachstum und Beschäftigung in Deutschland wesentlich geringer ausgefallen und somit auch die Steuereinnahmen des Staates. Diese Lücke hätte andernfalls durch den Staat ausgefüllt werden müssen, um ein Ansteigen der Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands werden nicht nur von den Amerikanern scharf kritisiert. Zudem sind in Deutschland schon seit vielen Jahren die inländischen Investitionen in Bildung und Infrastruktur viel zu niedrig. Wir leben ähnlich wie seinerzeit die DDR von der Substanz (mehr dazu hier). Von daher gibt es sehr gute Gründe, warum Deutschland mehr investive Schulden machen sollte. Carl Christian von Weizsäcker plädiert von daher schon seit vielen Jahren für eine höhere Verschuldung von Deutschland und steht damit als stramm konservativer Neoklassiker im Widerspruch zu vielen seiner deutschen Kollegen. Ottmar Issing hatte hierzu im Februar 2020 ein hochkarätiges Seminar veranstaltet. Insbesondere die Replik von Hans-Werner Sinn sowie die Duplik von von Weizsäcker sollte man sich nicht entgehen lassen.

Fazit

  • Damit eine Volkswirtschaft reibungslos funktioniert, muss immer genügend Geld in Umlauf sein.
  • Geld ist ein Schuldverhältnis. Demzufolge muss sich immer einer verschulden, damit Geld in Umlauf ist und auch in Umlauf bleibt.
  • Ein isolierter Blick allein auf die Staatsschulden ist völlig unzureichend. Demzufolge kann es auch keinen optimalen Wert für die Staatsverschuldung geben.
  • Je höher die private Verschuldung ist, desto geringer sollte die staatliche Verschuldung sein und vice versa.
  • Je niedriger das Zinsniveau ist, desto höher können die Schulden sein.
  • Je höher das BIP pro Kopf bei ausgeglichener oder positiver Leistungsbilanz, desto höher kann auch die Verschuldung sein.
  • Investive Staatsausgaben sind grundsätzlich besser als konsumtive Ausgaben.

Im letzten Teil unserer Serie wollen wir uns dann genauer anschauen, welche Vorschläge und Ideen es zur Schuldenstabilisierung gibt und welche Konsequenzen diese für Wachstum und Beschäftigung haben.

Lesen Sie hier den ersten Teil: Die Rolle der Schulden in unserem Geldsystem
Lesen Sie hier den zweiten Teil: Private Schulden müssen zurückgezahlt werden

DER AUTOR

Dipl.-Hdl. Michael Stöcker betreibt den Blog Zinsfehler.

 

 

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