Peter K. Jaensch berichtet über Pro und Kontra Hayek im südlichen Pazifik

Bowen House, Beehive und Parliament House (v. l. n. r.) in Wellington — Foto: Ulrich Lange/Wikimedia

Der bisher weltweit radikalste Umbau

Neuseeland hat sich mit atemberaubender Geschwindigkeit von einem überregulierten Wohlfahrtsstaat zu einem der freiesten Staaten der Welt entwickelt.

Von Peter K. Jaensch. — Dresden, 28. April 2023

Während meines Aufenthalts in Neuseeland im April 2023 sah ich ein Traumhaus, das auf einem Hangrutsch am Pazifik oberhalb eines der schönsten Strände von Auckland stand. Es hatte die starken Niederschläge, die im Januar 2023 die Nordinsel heimsuchten, überstanden. Der Stadtrat hat das Haus für unbewohnbar erklärt und dem Besitzer die weitere Nutzung untersagt.

Wenn wie hier Individualrechte bei einem Naturereignis eingeschränkt werden können, warum dann nicht auch bei von Menschen verursachten einschneidenden Ereignissen? Wie etwa bei den sozialen Verwerfungen, die bei der radikalsten Wirtschaftsliberalisierung, die die Welt je gesehen hat, entstanden sind. Dabei wird in diesem Beitrag auch gefragt, ob alle dasselbe meinen, wenn sie von Freiheit reden, oder ob hier nicht jeder von seiner eigenen Lebenserfahrung spricht.

Diese Fragen stellt der einstige Leiter des Berufsverbands für Fach- und Führungskräfte in Neuseeland (New Zealand Institute of Management) David Chapman (1937–2012) in seiner Streitschrift „Wer hat hier Mist gebaut? Demokratie in der Krise“ (Who Dropped the Ball? Democracy in Crisis). Chapman geht der Frage nach, wie aus einem Land, in dem einst Milch und Honig floß, heute „eine Gesellschaft, die durch Selbstmord, Armut und Ungleichheit gekennzeichnet ist“ werden konnte. Heute sieht er auf einmal die, die er früher übersehen hatte. Er fragt sich dabei, ob der ungehinderte Handel wirklich Wohlstand für alle schafft. Das schließt die Frage mit ein, ob der Liberalismus für sich ausreicht, um ein Land zu befrieden, oder ob es nicht mehr bedarf, um die durch die freie Marktwirtschaft erzeugten Wohlstandsunterschiede auszugleichen.

Chapman beklagt sich darüber, daß die Generation Neuseeländer, die im Wohlfahrtsstaat aufgewachsen ist, ab Mitte der 1980er Jahre diesen für ihre Kinder schrittweise abgebaut hat. Für ihn ist die Familie eine Art Staffellauf, bei der die Eltern die Gaben, die sie von ihren Eltern erhalten, an die nächste Generation weiterreichen. Der grundlegende Paradigmenwechsel in der neuseeländischen Wirtschafts- und Sozialpolitik – weg vom Keynesianischen Interventionismus, hin zum Hayekschen Liberalismus – fand auch zuerst als ein Herumwursteln von in Neuseeland aufgewachsenen Sozialdemokraten statt, die dem unter der konservativen Vorgängerregierung angehäuften Haushalts- und Handelsdefizit nicht anders loswerden konnten, als indem sie alle ihrer Wahlversprechen brachen. Sie gewannen ihre Wähler nicht, indem sie ihnen große Anstrengungen in Aussicht stellten, sondern indem sie ihnen das Weiterfließen von Milch und Honig versprachen, nur eben unter anderen Voraussetzungen. Einmal im Amt gewählt konnten sie dann ihren Landsleuten das abverlangen, was das Land brauchte, um sich erfolgreich auf dem Weltmarkt zu behaupten. Das Land lebte schon lange über seine Verhältnisse – bei meinem ersten Besuch 1979 las ich noch auf einen Aufkleber auf der Stoßstange eines Autos: „Am billigsten lebst du in der Vergangenheit!“ (Live in the past. It’s cheaper!)

Chapman machte der Verkauf von Vermögenswerten an ausländische Interessenten und die Anhäufung von Reichtum in wenigen Händen „Angst“. Er sah, wie immer mehr Leute im Dunkeln lebten. Schließlich hatte er sein Haus gekauft, als es noch das erschwingliche Dreifache eines Jahresgehalts gekostet hatte; für ein gleichwertiges Haus müsse sein Sohn jetzt vierzehn Jahresgehälter aufbringen. Die neuseeländische Metropole Auckland ist damit zu einer Weltstadt wie jede andere geworden. Einst erbte jede Generation sozusagen ein Anrecht auf ein Eigenheim. Heute ist der Hausbesitz für den normalen Bürger, zumindest in Auckland, fast unbezahlbar geworden. Teilweise auch durch den Zugriff der internationalen Finanzströme. Der Leiter der Interessenvertretung der Führungskräfte Neuseelands sieht seinen Sohn nun auf der anderen Seite des Wohlstandsgefälles stehen, die Seite, die er bisher nur als makroökonomische Kennzahl wahrgenommen hat. Für seinen Sohn ist das aber nun gelebte Realität.

Chapman schreibt diese Entwicklung der Zunahme des Eigeninteresses zu. Vielleicht war das aber immer schon so, meint er dann. Auch schon vor hundert Jahren, als Neuseeland mit Hilfe der Garantie- und Schutzmacht Großbritannien zum weltweit führenden Wohlfahrtsstaat aufstieg. In einem Pressegespräch sagt Chapman dazu, nun wachen wir langsam auf.

Die von Chapman angesprochene Kluft in der Bevölkerung Neuseelands durch die radikale Liberalisierung des Landes faßt der japanisch-stämmige amerikanischer Politikwissenschaftler Francis Fukuyama in seiner Schrift „Das Unbehagen an der individuellen Freiheit“ (Liberalism and Its Discontents) wie folgt zusammen: „Die Lebenserfahrung (lived experience) der verschiedenen Gruppen, und hier insbesondere derjenigen, die durch die Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt werden, wird von der Mehrheitsgesellschaft nicht wahrgenommen und kann auch nicht von denjenigen geteilt werden, die andere Lebensgeschichten haben (Hervorhebung PKJ)“. Ist der Weg zur Liberalisierung einer Gesellschaft also nur mit guten Vorsätzen gepflastert?

QUELLEN UND LITERATUR

David Chapman: Who Dropped the Ball? Democracy in Crisis. Nelson, New Zealand 2020 (https://whodroppedtheball.co.nz/). Aus einem Wutbrief an die Regierung in Wellington über den Ausverkauf des öffentlichen Vermögens beim Übergang zum Wirtschaftsliberalismus entstand diese vom Leiter des New Zealand Institute of Management im Selbstverlag veröffentlichte Streitschrift. Sie ist ein leidenschaftliches Plädoyer für den Erhalt des neuseeländischen Wohlfahrtsstaates. Ohne beim Namen genannt zu werden weht hier der „böse Geist“ Hayeks durch die Seiten dieser Streitschrift.

Francis Fukuyama: Liberalism and Its Discontents. London 2022, Seite 91. Fukuyama liefert hier eine aktuelle und hochinteressante Auseinandersetzung zum Thema der Entstehung und Wandlung des Begriffs „Liberalismus“. Das Buch ist leider noch nicht ins Deutsche übersetzt worden. Im Literaturverzeichnis wird das dreibändige Werk „Recht, Gesetz und Freiheit“ von Hayek aufgeführt, in dem dieser die spontane, also von selbst entstehende Ordnung der staatlichen Ordnung gegenüberstellt. Genau hier stand Neuseeland im Jahr 1984, als es mit der Planwirtschaft nicht mehr so richtig voran ging. Während die ganze Welt verdutzt zuschaute, probierte sich die neue Labour-Regierung als Zauberlehrling und fand dabei den Stein des Weisen in der Wirtschaftslehre Hayeks.

▬ Im Netz findet der Leser unter den Suchbegriffen „Neuseeland Wirtschaft“ und „Neuseeland Experiment“ umfangreiche Literatur zu der atemberaubenden Geschwindigkeit mit der Neuseeland sich von einem überregulierten Wohlfahrtsstaat zu einem der freiesten Staaten der Welt entwickelt hat. Empfehlenswert ist die folgende schnell zu lesende und leichtverständliche Studie:
Hans-Georg Petersen, (Universität Potsdam): Das Neuseeland Experiment. Ist das die zukünftige Entwicklung des deutschen Sozialstaats? April 1997. https://www.researchgate.net/publication/24111697_Das_Neuseeland_Experiment_Ist_das_die_zukunftige_Entwicklung_des_deutschen_Sozialstaats (Aufgerufen am 24.4.2023) Eine leicht verständliche und detaillierte Zusammenfassung der bisher radikalsten Umwandlung eines überregulierten Wohlfahrtsstaates in ein freies Staatswesen. Es wird gefragt, ob Deutschland die Zähmung seines Sozialstaats von Neuseeland lernen kann.

The New Politics: A Third Way for New Zealand. Palmerston North, New Zealand 1999, mit einem Vorwort von Josef Stiglitz, amerikanischer neukeynsianischer Ökonom und ehemaliger Chefökonom der Weltbank. Eine ausführliche Darstellung von sieben verschiedenen Autoren zu den Vor- und Nachteilen der Einführung des Wirtschaftsliberalismus in einem einst überregulierten Wohlfahrtsstaat.

Dolores Janiewski and Paul Morris (Victoria University, Wellington): New Rights in New Zealand. Myths, Moralities and Markets. Auckland 2005. Janiewski und Morris untersuchen die Neue Rechte Neuseelands und ihre Haltung zum Wirtschaftsliberalismus. Kritisiert wird dabei die „Entfesselung der Marktkräfte, wie von Hayek befürwortet“. Der Index enthält allein 33 Einträge zu Hayek, darunter 5 unter der Überschrift „Einfluß auf Neuseeland“. Hayek spielt in der Diskussion über die Umwandlung Neuseelands von einem Wohlfahrtsstaat zu einem liberalen Musterstaat eine Schlüsselrolle.

Richard Wilkinson and Kate Pickett: The Spirit Level. Why Greater Equality Makes Societies Stronger. New York 2010. Ein faktengesättigtes Plädoyer für den Wohlfahrtsstaat und gegen den Wirtschaftsliberalismus. Auf der Buchrückseite steht u.a.: „Warum in allen Gesellschaften, die eine größere Kluft zwischen Arm und Reich aufweisen, alle schlechter dran sind – auch die Wohlhabenden.“ Begründet wird diese Feststellung wie folgt: „Beinah alles, was wir unter dem Wohlergehen einer Gesellschaft verstehen – von der Lebenserwartung bis hin zu den psychischen Erkrankungen, von der Gewalt bis zum Analphabetentum – all das wird weniger vom Wohlstand einer Gesellschaft als von der darin bestehenden Ungleichheit bestimmt.“

DAS FOTO

Die neuseeländischen Parlamentsgebäude in Wellington bestehen aus vier architektonisch verschiedenen Gebäuden unterschiedlicher Epochen. Das Gebäudeensemble umfasst das Bowen House (ein 22-stöckiges Bürohaus; zwischen 1988 und 1990 errichtet), das Beehive (Spitzname Bienenstock; zwischen 1969 und 1979 umgesetzt; in dem u. a. der Prime Minister seinen Sitz hat, die Büros der Minister sich befinden und das Kabinett zu Sitzungen zusammenfindet), das Parliament House (in dem das Parlament tagt; im neoklassischen Stil des Zeitalters Eduards VII.) und nicht im Foto die Parliamentary Library (zwischen 1883 und 1899 erbaut; das die Bibliothek des Parlamentes beherbergt).

DER AUTOR

Peter K. Jaensch, zehn Jahre Lektor im Zeitungs- und Zeitschriftenarchiv des ZDF. Magister der Erwachsenen-bildung und Personalentwicklung. Mitglied im Hayek-Verein. — Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Vereins wieder und werden hier als Diskussionsbeitrag veröffentlicht.

 

 

 

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