Prof. Erich Weede: Nukleare Abschreckung im Lichte des Ukrainekriegs

Bei weltweit knapp 2100 Kernwaffentests wurde auch in Friedenszeiten das atomare Abschreckungspotential auf erschreckende Weise vorgeführt. Letzte atmosphärische Tests: GB (bis 1958), USA (bis 1963), UdSSR (bis 1962); weitere oberirdische Test: Frankreich (bis 1974) und China (bis 1980). — Foto: WikiImages auf Pixabay

 

Der Krieg im Atomzeitalter

Gedanken zur Eskalationstheorie

Von Prof. Dr. Erich Weede. — 29. April 2023 — UPDATE: Verlinktes Video von der Veranstaltung siehe unten.

Mehr als 30 Jahre lang – nach dem Untergang der Sowjet-Union und des Warschauer Paktes – glaubten wir Europäer vergessen zu dürfen, dass wir im Atomzeitalter leben. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sollten wir wieder daran denken. Zumindest der Krieg zwischen nuklear hoch gerüsteten Großmächten unterscheidet sich grundsätzlich von Kriegen vor Erfindung von Nuklearwaffen und Interkontinentalraketen. Früher konnte man sich vorstellen, dass eine Seite den Krieg gewinnt und nach dem Sieg Kriegsziele durchsetzen kann. Allzu oft hatten sogar beide Seiten diese Hoffnung. Im Atomzeitalter ist beim nuklearen Schlagabtausch zwischen den beiden führenden Nuklearmächten – das sind immer noch die USA und Russland – das plausibelste Resultat die gegenseitige Vernichtung beider Mächte und darüber hinaus großer Teile der Menschheit, bestimmt einschließlich Europas. Zwar ist in amerikanischen Fachzeitschriften vor fast 20 Jahren mal die Frage gestellt worden, ob die Russen wirklich noch über eine Zweitschlagskapazität verfügen, die als Voraussetzung für eine stabile Abschreckung gilt. Aber schon der Versuch das herauszufinden könnte zur Vernichtung eines großen Teils der Menschheit, dem nuklearen Winter oder zumindest einem nuklearem Herbst führen. Kein vernünftiger Mensch kann den nuklearen Schlagabtausch zwischen den beiden großen Atommächten wollen. Daraus folgt, dass bei allen Unterschieden in der Beurteilung des Geschehens in der Ukraine das gemeinsame Interesse an der Vermeidung der Eskalation des Krieges im Vordergrund stehen sollte.

Die Eskalationsleiter

Dabei ist es nützlich, sich eine Eskalationsleiter vorzustellen, die von bloßen Meinungsverschiedenheiten etwa über die Souveränität der Ukraine bis hin zum nuklearen Schlagabtausch reicht. Herman Kahn hatte zwar vor mehr als 50 Jahren eine Leiter mit mehr als 40 Stufen dargestellt. Darauf kann hier verzichtet werden, weil man nicht wissen kann, ob in den Köpfen der Gegenseite dieselbe Leitervorstellung herrscht wie im eigenen, weil niemand genau wissen kann, wie weit die Abstände zwischen welchen Stufen sind bzw. wo das Eskalationsrisiko wie stark steigt. Es ist zu befürchten, dass in verschiedenen Köpfen unterschiedliche Eskalationsvorstellungen bedacht werden und es deshalb zu Missverständnissen und beiderseitig unerwünschter Eskalation kommen kann. Aus der Erfahrung des kalten Krieges, den wir ja überlebt haben, kann man Hinweise entnehmen, welche Schwellen beide Seiten im gemeinsamen Interesse nicht überschreiten wollten und auch nicht überschritten haben. Beide Seiten, damals Amerikaner und Sowjets, wussten, dass jenseits des Einsatzes auch nur einer einzigen Atomwaffe die Eskalationsgefahr sehr hoch ist. Beide Seiten wussten auch, dass bei einer direkten Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Truppen die Eskalationsgefahr stark steigt. Und jetzt kommt der kontroverse Punkt:

Beide Seiten respektierten die Einflusssphäre der anderen Seite. Die Einflusssphären wurden durch Bündnisse markiert und durch Truppenstationierungen auch in der Nähe des Eisernen Vorhangs untermauert. Dass die sowjetische Dominanz im Warschauer Pakt einen anderen Charakter hatte als die amerikanische in der NATO, dass deshalb der amerikanisch geführte Block auch mal als ‚empire by invitation’ bezeichnet worden ist, kann unter dem Gesichtspunkt der Eskalationsvermeidung vernachlässigt werden. Dafür ist die gegenseitige Respektierung von Einflusssphären allein entscheidend. 1956 wurde das in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei bestätigt.

Eskalationstheoretisch betrachtet besteht der Kern des Ukraine-Problems genau darin, dass der Westen Russland keine Einflusssphäre zugesteht. Die westliche Position passt gut zum Völkerrecht, das den Begriff der Einflusssphäre und damit verbundener massiver Souveränitätsbeschränkungen nicht kennt. Aus russischer Sicht – ich fürchte, damit steht Putin in Moskau bei weitem nicht allein – läuft die westliche Position darauf hinaus, die ganze Welt als westliche oder amerikanische Einflusssphäre zu beanspruchen. Der russische Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre wurde 2008 in Georgien, 2014 auf der Krim und im Donbass schon mal erhoben und jetzt in der Ukraine mit militärischem Nachdruck.

Im kalten Krieg gab es nur eine vergleichbar gefährliche Situation wie jetzt, nämlich die Kuba-Krise 1962. Für die Amerikaner war die Zugehörigkeit Kubas zu ihrer eigenen Einflusssphäre eine Selbstverständlichkeit. Mit der Monroe-Doktrin wurde dieser Anspruch schon im 19. Jahrhundert erhoben, bevor die USA eine Großmacht waren. Mit der dauerhaften Stationierung atomar bestückter Mittelstreckenraketen auf Kuba hätte sich außerdem die Warnzeit im Falle eines Angriffs für die USA wesentlich verkürzt. Ohne auf die Kuba-Krise und den folgenden Kompromiss im Detail einzugehen, ist hier zweierlei wichtig. Fachleute halten diese Krise für den Zeitpunkt, an dem die Menschheit dem nuklearen Inferno am nächsten war. Den entscheidenden Politikern in Moskau und Washington war die Gefahr bewusst. Für die amerikanische Seite ist das seit Jahrzehnten allgemein leicht zugänglich dokumentiert.

Die USA haben den Einsatz von amerikanischen oder NATO-Truppen auf dem Gebiet der Ukraine oder eine Flugverbotszone ausgeschlossen und zeigen damit ansatzweise etwas Respekt vor dem russischen Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre. Weil der Westen allerdings Waffen in die Ukraine liefert, die russische Panzer und Militärflugzeuge abschießen können, kann das unklare Ausmaß der westlichen Respektierung des russischen Anspruchs auf eine eigene Einflusssphäre keine zuverlässige Eskalationsschranke sein. Weil man in Washington das nuklearstrategische Denken im Gegensatz zu Europa und vor allem Deutschland nie aufgegeben hat, besteht immerhin die Hoffnung, dass das mit Waffenlieferungen verbundene Risiko dort zumindest unter kritischer Dauerbeobachtung steht.

Der Wirtschaftskrieg

Während das mit Waffen und Militäreinsätzen verbundene Eskalationsrisiko einigermaßen durchdacht worden ist, wie eine umfangreiche Literatur dokumentiert, scheint das beim Eskalationspotenzial von Wirtschaftssanktionen nicht der Fall zu sein, obwohl amerikanische Sanktionen doch unbedingt zur Vorgeschichte des japanischen Überfalls auf Pearl Harbor und damit den asiatischen Teil des zweiten Weltkriegs gehören. In Studien zu Wirtschaftssanktionen geht es entweder um deren meist bescheidene politische Erfolge oder um die Effekte auf Volkswirtschaften. Die Sanktionen gegen Russland sind in Absicht und Ausmaß sehr einschneidend. Der russischen Zentralbank ist die Verfügung über große Teile der eigenen Devisenreserven genommen worden. Wichtige russische Banken sind von SWIFT und damit vom globalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen worden. Ein Verzicht auf Importe von Öl und Gas aus Russland ist im Westen sukzessiv durchgesetzt worden. Das sollte dazu Anlass geben, darüber nachzudenken, was passiert, wenn die russische Wirtschaft sich dem Zusammenbruch nähern sollte.

Was vor dem Atomzeitalter vielleicht ein Traum-Ergebnis von Sanktionen gewesen wäre, könnte im Atomzeitalter ein Albtraum werden. Wer einen nuklear hoch gerüsteten Gegner zur Verzweiflung bringt, sollte das Risiko von Verzweiflungstaten, wie dem Einsatz vielleicht zunächst taktischer Atomwaffen, zumindest bedenken. Es ist schon merkwürdig, Putin gleichzeitig zu verteufeln, ihm aber die Teufelei eines nuklearen Ersteinsatzes nicht zuzutrauen. Wegen der schwachen Wirksamkeit der Wirtschaftssanktionen muss sich der Westen darum kaum Sorgen machen. Unter eskalationstheoretischer Perspektive ist es deshalb schon fast beruhigend, dass die russische Volkswirtschaft dank hoher Ölpreise, asiatischer Handelspartner und einer gesunden Leistungsbilanz dem Zusammenbruch fern ist und damit keinen Anlass zu nuklearen Verzweiflungstaten bietet.

Weil es im Krieg in der Ukraine letztlich um die Existenz einer russischen Einflusssphäre geht, sind die eigentlichen Kontrahenten Russland einerseits und die USA bzw. der Westen andererseits. Weil die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre in die westliche Welt wechseln will, ist sie der Kriegsschauplatz geworden. Der Westen hat versucht, den Konflikt vom militärischen auf das ökonomische Gleis auszuweiten. Das ist in Anbetracht des erdrückenden Übergewichts des Westens bei der Wirtschaftskraft naheliegend. Vergleicht man Russland und die USA, kommt Russland noch nicht mal auf ein Zehntel der Wirtschaftskraft. Vergleicht man Russland mit der NATO ist es knapp ein Zwanzigstel. Mit den Sanktionen hat der Westen den Wirtschaftskrieg gegen Russland eröffnet. Obwohl auch manche westliche Länder, wie Deutschland, darunter leiden, hat Russland schon auf Grund der wirtschaftlichen Machtverhältnisse keine Chance den Wirtschaftskrieg zu gewinnen.

Wenn weder die russische Front noch die russische Wirtschaft zusammenbricht, könnte der Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen lange dauern. Je länger sich der ukrainische Widerstand hält, je schärfer die westlichen Sanktionen Russlands ökonomische Basis bedrohen, desto näher liegt es für Russland, seine Rohstoffexporte immer mehr nach Asien und vor allem nach China auszurichten. Bei einem wirtschaftlichen und demographischen Kräfteverhältnis in der Nähe von 10 zu 1 zugunsten Chinas droht Russland auf lange Sicht zum Juniorpartner Chinas zu werden. Noch garantiert die nukleare Stärke Russlands, das Erbe der Sowjet-Union und des kaltem Krieges, dass Russland gleichberechtigter Partner Chinas ist. Aber wenn China seine nukleare Rüstung auf amerikanisches und russisches Niveau angehoben hat, dann wird sich die zunehmende Abhängigkeit der russischen von der chinesischen Wirtschaft auswirken.

Der Kriegsverlauf

Der heldenhafte Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren lässt keinen Zweifel, dass die Ukrainer nicht von Moskau regiert werden wollen. Das Ausmaß der westlichen Unterstützung für die Ukrainer durch immer hochwertigere Waffensysteme und immer mehr finanzielle Hilfe läuft auf ein de facto Bündnis zwischen dem Westen und der Ukraine hinaus. Russland muss damit rechnen, dass die Ukraine – unabhängig vom Grenzverlauf zwischen der Ukraine und Russland – nach Kriegsende Mitglied der EU und der NATO wird. Deshalb glaubt man in Moskau schon heute, in der Ukraine vor allem gegen die Expansion des Westens zu kämpfen. So unglaublich es sich für uns Menschen im Westen anhört, Putin und viele Russen glauben vermutlich, in der Ukraine einen Verteidigungskrieg gegen den Westen zu führen.

Mit der Annexion von vier Bezirken in der Ostukraine, die Russland bisher noch nicht mal vollständig besetzt hat, hat Russland so etwas wie Voraussetzungen für einen Waffenstillstand oder ein Kriegende markiert. Diese russischen Bedingungen sind für die Ukraine völlig inakzeptabel, solange die Ukraine nicht den Zusammenbruch der eigenen Front befürchten muss. Falls der Ukraine irgendwann die Rückeroberung des Zugangs zum Asowschen Meer und damit die Unterbrechung der gegenwärtig russisch kontrollierten Landbrücke zur Krim gelingt, würde sich eine russische Niederlage im konventionellen Krieg abzeichnen und damit in Moskau die Frage des Einsatzes von Nuklearwaffen stellen, um noch zu retten was zu retten ist.

Der Westen hat dann die Wahl, entweder die Unterstützung der Ukraine zu reduzieren und damit die Ukraine zu einem verlustreichen Waffenstillstand oder einem in Kapitulation übergehenden Frieden zu bewegen, oder ein wesentlich gesteigertes Risiko eines Atomkrieges zumindest in Europa zu akzeptieren. Je länger der Krieg dauert, je mehr der Westen in die Unterstützung der Ukraine investiert hat, desto größer wird die Gefahr, dass der Eskalationsprozess im Atomkrieg endet. Man kann auch sagen; dass jeder ukrainische Sieg im konventionellen Krieg die Eskalationsgefahr erhöht und jeder russische Sieg sie verringert, weil russische Siege in Moskau den Einsatz von Nuklearwaffen überflüssig erscheinen lassen.

Abschließende Überlegungen

Falls diese Analyse richtig ist, dann ist das Ausmaß der westlichen Unterstützung für die Ukraine unklug und gefährlich, weil es Putins Option des Einsatzes von Atomwaffen verdrängt und von einem Sieg der Ukraine träumt. Außerdem kann man bezweifeln, ob es im westlichen oder auch nur im amerikanischen Interesse gewesen ist, durch Unterstützung der Ukraine und den Wirtschaftskrieg gegen Russland, Russland in ein Bündnis mit China und auf Dauer in eine chinesische Einflusssphäre zu zwingen. Allgemein gilt die geopolitische Regel, dass man Bündnisse rivalisierender Großmächte bzw. zumindest potenzieller Gegner verhindern sollte. Unabhängig vom Schicksal und den Grenzen der Ukraine ist nicht klar, welchen Vorteile die USA oder der Westen davon haben wird, dass sich die chinesische Einflusszone künftig bis an die Ostsee, bis Königsberg und Petersburg, erstrecken wird.

Zweifel am Sinn der westlichen Ukraine-Politik implizieren nicht, dass Putin mit der Invasion der Ukraine russische Sicherheitsinteressen klug vertreten hat. Das gilt unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges. Russland wird die Annexion ukrainischer Gebiete – egal ob der Versuch gelingt oder misslingt – mit dem schleichenden Verlust seiner Unabhängigkeit bezahlen. Je ferner die Option einer künftigen Annäherung Russlands an den Westen, desto abhängiger wird Russland vom großen Bruder China werden. Es kann nicht das Ziel Putins oder russischer Patrioten gewesen sein, das unbeteiligte China zum lachenden Dritten des Krieges in der Ukraine zu machen. Für China reicht es, den rivalisierenden Großmächten die Initiative und die Fehler zu überlassen.

© Erich Weede — Wir danken herzlich dem Autor für die freundliche Erlaubnis, den Text veröffentlichen zu dürfen.

DER AUTOR

Prof. Dr. Erich Weede (Jahrgang 1942) ist Soziologe, Psychologe und Politikwissenschaftler. Forschungsschwerpunkte während seiner wissenschaftlichen Laufbahn sind die Gewaltanfälligkeit von Gesellschaften sowie Kriegsursachen und Kriegsverhütung. Er hat über 200 wissenschaftliche Arbeiten verfaßt, darunter Zivilisationsvergleiche unter besonderer Berücksichtigung Asiens, über Konfliktforschung und Gewaltanwendung. Prof. Weede ist Mitglied mehrerer internationaler politischer Gesellschaften und er wurde 2012 mit der Hayek-Medaille der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft ausgezeichnet.

DAS VIDEO VON DER VERANSTALTUNG

Prof. Dr. Erich Weede: Der Krieg im Atomzeitalter – Gedanken zur Eskalationstheorie
am 27. April 2023 im Gasthof Weißig

 

 

 

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