Prof. Gerd Habermann: 50 Jahre «Verfassung der Freiheit» – Teil 1

— Fotos: privat; ÖNB Wien

Meilenstein in der Geistesgeschichte: eine liberale Utopie

Motive und Ambition, Aufbau des Buches von F. A. von Hayek

Von Prof. Gerd Habermann. — Potsdam, im Oktober 2021

Zusammenfassung

▬ Vor 50 Jahren erschien die deutsche Übersetzung von The Constitution of Liberty. Es wurde zu einem Meilenstein in der Geistesgeschichte des Liberalismus. Hayek legte damit eine liberale Utopie vor, die weder die Empfindlichkeiten der Interessengruppen schont noch darauf achtet, was politisch gerade möglich ist.

▬ Hayeks Kernthese in diesem Buch: Die moderne Zivilisation beruht auf einer Nutzung individuell gebundenen und in der Arbeitsteilung weit verstreuten Wissens, das durch Wettbewerb im freien Markt mit dem Signalsystem der Preise und auf Basis verbindlicher moralischer Regeln für das Gemeinwohl nutzbar gemacht wird. Von der Freiheit, dieses Wissen individuell nutzen zu können, hängt nicht nur der Wohlstand, sondern das pure Überleben der heutigen Milliardenbevölkerung ab.

▬ Hayek kritisiert den Glauben an die beliebige Machbarkeit der sozialen Wirklichkeit durch wissenschaftliche Vernunft. Zentrale Planung kann das sich ständig wandelnde, lokal und persönlich gebundene individuelle Wissen nicht erfassen. Die Gesellschaft läßt sich nicht nach Art einer Maschine konstruieren. Er zeigt die Grenzen der planenden Vernunft auf, was nicht mit Irrationalismus zu verwechseln ist, sondern nur die Grenzen dessen zeigt, was sie leisten kann.

▬ Das in den Institutionen, Traditionen, Werkzeugen gespeicherte Wissen sieht Hayek als Ergebnis der Erfahrung und Bewährung über Generationen. Die soziale Evolution, durch den Gruppenwettbewerb vorangetrieben, belohnt durch Erfolg jene Gruppen, welche Institutionen besitzen, die ihr Gedeihen und ihr Wachstum fördern, ohne dass sie diese eigens «erfunden» haben. Überlieferte Moralregeln (wie die Zehn Gebote) sind nie von einem Einzelnen Menschen ausgedacht, sondern Ergebnis der historischen Siebung, einer sozialen Tauglichkeitsprobe.

* * *

Vor 50 Jahren erschien im Verlag Mohr und Siebeck die deutsche Übersetzung von The Constitution of Liberty. Das Original war schon zehn Jahre vorher erschienen. Für die echten Liberalen in aller Welt machte dieses Buch Epoche. Es wurde zu einem Meilenstein in der Geistesgeschichte des Liberalismus wie vorher etwa Wilhelm von Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792). Und dann – in vielfacher Anlehnung an von Humboldt – John Stuart Mills Über Freiheit (1859). Ohne diesen liberalen Altvorderen zu nahe treten zu wollen, muss man wohl sagen, dass Hayek beide Autoren an Umfang des Wissens, auch Tiefe und Stringenz der Gedanken, Weite des Gesichtskreises übertrifft, nur noch erreicht von ihm selber in seinem Spätwerk Recht, Gesetzgebung und Freiheit (deutsch 1980/1981). Hayek hat einmal (1949) geschrieben:

«Was uns heute mangelt, ist ein liberale Utopie, die weder eine bloße Verteidigung des Bestehenden ist noch einfach als verwässerter Sozialismus erscheint, die weder die Empfindlichkeiten der bestehenden Interessengruppen schont noch glaubt, so ‹praktisch› sein zu müssen, dass er sich auf Dinge beschränkte, die heute politisch möglich erscheinen.»

Diese nicht praktisch, technisch und moralisch unmögliche Utopie wie die des Sozialismus, sondern eine realisierbare liberale Utopie hat er mit seiner Verfassung der Freiheit und später mit Recht, Gesetzgebung und Freiheit vorgelegt. Zwar löste dieses Freiheitsbuch nicht jene große intellektuelle Debatte wie sein Buch Der Weg zur Knechtschaft (1944) aus, aber es griffen doch – von seiner sonstigen weltweiten Rezeption abgesehen – große liberale Reformer wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan bei ihren kühnen Bemühungen ausdrücklich auf Hayeks Bücher und namentlich Die Verfassung der Freiheit zurück. Es bleibt für alle Zukunft eine Quelle der Inspiration für echte Liberale und politische Reformer. Der Weg zur Knechtschaft blieb indessen sein erfolgreichstes Buch (jetzt sogar in einer Billigausgabe im Kopp-Verlag).

Man muss zunächst die intellektuelle Kraft und den optimistischen Schwung Hayeks bewundern, im Zeitalter des Sozialismus (den er geistig für erledigt und kompromittiert hielt), und heute vor allem des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates ein solches Werk zu verfassen. Der feine, gepflegte und ruhige Stil seiner Sprache – ohne Schwulst, pathetische Übertreibung und Superlativismen – macht die Lektüre seiner Bücher auch zu einem Lesegenuss. Es ist zudem nicht nur das Werk eines spezialisierten Ökonomen, sondern Hayek bedient sich interdisziplinär auch eines umfangreichen geschichtlichen, philosophischen, rechtswissenschaftlichen, biologischen und psychologischen Wissens. Wie er selber einmal schrieb:

«Niemand kann ein großer Ökonom sein, der nur Ökonom ist, und ich bin sogar versucht hinzuzufügen, dass der, der ausschließlich Ökonom ist, leicht zum Ärgernis, wenn nicht gar zu einer wirklichen Gefahr wird.» (1977)

Motive und Ambition

Hayek schreibt in seiner Einleitung:

«Wenn alte Wahrheiten ihren Einfluss auf das Denken der Menschen behalten sollen, müssen sie von Zeit zu Zeit in der Sprache und den Begriffen der folgenden Generationen neu formuliert werden. Ständiger Gebrauch beraubt selbst die Ausdrücke, die sich einst als die wirkungsvollsten erwiesen haben, immer mehr ihrer Bedeutung, bis sie schließlich kaum mehr Überzeugungskraft haben.» (S. 1)

«Dieses Buch ist geschrieben, um Verständnis zu fördern, nicht um Begeisterung zu wecken.» (S. 6) (Es erweckt gleichwohl auch Begeisterung.)

«Wenn wir im Wettbewerb der Ideen Sieger bleiben wollen, müßten wir uns zuerst selbst im Klaren sein darüber, woran wir glauben; wir müßten wissen, was wir verteidigen und erhalten wollen.» (S. 2)

Er gibt zu, dass besonders in Europa einige Leser das Buch wie eine «Nachuntersuchung der Daseinsberechtigung eines Systems vorkommt, das nicht mehr besteht.» Hayeks Antwort darauf:

«Wenn unsere Zivilisation nicht untergehen soll, muss dieses System wiederhergestellt werden.» (S. 8)

Dies mag der stärkste Antrieb für Hayek gewesen sein, sich der Mühe dieses gewaltigen Buches zu unterziehen.

Aufbau des Buches

Das Buch ist neben einer Einleitung und einem Nachwort in drei Hauptteile mit 24 in sich wieder unterteilten Kapiteln gegliedert. Im ersten Teil («Wert der Freiheit») geht es um grundlegende Definitionen, um die Bedeutung der Freiheit für den Kulturfortschritt, ihre – auch soziologischen – Voraussetzungen, ihr Verhältnis zur Gleichheit, zur Demokratie und um ihre Bedeutung für die persönliche Unabhängigkeit. Dieser Teil ist für sich bereits die beste Einführung in den Liberalismus.

Im zweiten Teil («Freiheit und Gesetz») geht es vor allem um die Rolle des Staates und seiner Herrschaftsmittel (Befehl, Zwang, Verwaltung) sowie um die Geschichte und wesentlichen Elemente der Freiheitsidee seit der Antike, um Föderalismus, Rechtsstaat und Konstitutionalismus. Die Beiträge einzelner Nationen, namentlich der Briten, Frankreichs und Amerikas, auch Deutschlands, sogar Preußens werden geschildert und ein Kapitel dem betrüblichen Verfall des liberalen Rechtsstaatsideals durch Rechtspositivismus und Kommunismus gewidmet.

Der dritte Teil («Freiheit im Wohlfahrtsstaat») ist programmatischer Natur. Es geht hier um das Schicksal der Freiheit im Wohlfahrtsstaat, der den revolutionären Sozialismus abgelöst hat, um all die gegenwärtigen Bereiche staatlicher Intervention und die liberale Antwort darauf, um Besteuerungsmethoden, Sozialversicherung, Gewerkschaften, um Währungspolitik, Stadtplanung, Wohnungswesen, Landwirtschaft, um Erziehung und Forschung. Diese Kapitel sind gestützt auf umfassende Spezialliteratur. Das Buch schließt mit Betrachtungen zum Thema Konservatismus und Liberalismus.

— Wird fortgesetzt. —

LITERATUR

Ich zitiere hier nach der ersten Ausgabe von Hayeks «Die Verfassung der Freiheit» (Tübingen, 1971). Heute in Hayeks «Gesammelte Schriften in deutscher Sprache», B3, 4. Aufl., Tübingen 2005
Sekundär:
Bouckaert, Boudewijn und Godart -van der Kroon, Annette (Ed.): Hayek revisited, Cheltenham 2000
Caldwell, Bruce: Hayek´s Challenge, Chicago, 2004
Feldmann, Horst: Hayeks Theorie der kulturellen Evolution. Eine Kritik der Kritik, in: Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen, Berlin 2002, S. 51 ff.
Frei, Christoph/Nef Robert: Contending with Hayek, Bern 1994
Getabstract.com.de: Zusammenfassung von «Die Verfassung der Freiheit» Hennecke, Hans Jörg: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000
Horn, Karen Ilse: Hayek für jedermann. Die Kräfte der spontanen Ordnung, Frankfurt 2013
Schwarz, Gerhard/ Habermann, Gerd/Aebersold Szalay, Claudia (Hrsg.): Die Idee der Freiheit (darin zur «Verfassung der Freiheit» Viktor J. Vanberg, S. 84/85), 2. Aufl., Zürich 2007
Schwarz, Gerhard/Wohlgemuth, Michael: Das Ringen um die Freiheit. «Die Verfassung der Freiheit» nach 50 Jahren, Zürich 2011
Waschkuhn, Arno: Kritischer Rationalismus (Darin ausführlich über Hayek S. 85ff.), München 1999

DER AUTOR

Prof. em. Dr. Gerd Habermann ist Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Initiator und Mitgründer der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und der Friedrich-August von Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft.
Wir veröffentlichen den Artikel von Prof. Gerd Habermann mit freundlicher Genehmigung des Autors. Copyright 2021, Liberales Institut, Zürich, Schweiz.

 

 

 

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