Prof. Gerd Habermann: 50 Jahre «Verfassung der Freiheit» – Teil 2

— Fotos: privat; ÖNB Wien

Weit verstreutes Wissen und das Signalsystem der Preise

Selbstorganisation einer freien Gesellschaft unter Regeln

Von Prof. Gerd Habermann. — Potsdam, im Oktober 2021

Hayeks Kernthese in diesem Buch: die moderne Zivilisation als komplexe Ordnung beruht auf einer Nutzung individuell gebundenen, auch in Traditionen, Institutionen, Werkzeugen implizit gespeicherten und in der Arbeitsteilung weit verstreuten Wissens, das durch Wettbewerb im freien Markt mit dem Signalsystem der Preise und auf Basis verbindlicher moralischer Regeln für das Gemeinwohl nutzbar gemacht wird. Von der Freiheit, dieses Wissen individuell nutzen zu können, hängt nicht nur der Wohlstand, sondern das pure Überleben der heutigen Milliardenbevölkerung ab.

Ein stärkeres Argument für die individuelle Freiheit – als Überlebensfrage der Zivilisation – lässt sich kaum denken. Dies ist eine informationstheoretische Begründung der Freiheit, während sonst im liberalen Lager meistens naturrechtlich-deontologische (Freiheit als Selbstzweck) oder utilitaristische (Nutzen-) Argumente zur Fundierung des Freiheitspostulates hinzugezogen werden. Wie kein anderer außer der schottischen Schule und besonders Adam Smith hat Hayek das Verständnis einer nichtzentralisierten, sich selbst nach Regeln organisierenden «spontanen Ordnung» gefördert. Auch für Ludwig von Mises ist die individuelle Freiheit im Kapitalismus Voraussetzung für das Überleben der Milliardenbevölkerung, da ohne arbeitsteiligen Markt und Preise als Knappheitsindikatoren jede rationale Wirtschaftsrechnung, jede betriebliche Kostenkalkulation und Planung unmöglich ist, man also ohne jeden Kompass ins Blaue hinein produziert.

Der Sozialismus ist damit (auch) von der wirtschaftlichen Seite betrachtet ein intellektueller Irrtum. Hayek und Mises bewiesen damit, dass eine zentrale Planwirtschaft im Sinne ihrer Zielsetzung – «gleicher Wohlstand für alle» – technisch unmöglich ist. Wir können die gewachsenen Ordnungen einer Gesellschaft nicht beliebig machen – wir wissen nicht genug dazu. Dies ist ein für allemal die Grenze einer planenden Vernunft: unsere «konstitutionelle Unwissenheit».

Hayek zeigt in den historischen Abschnitten, wie nach einem langen Siegeszug des liberalen Denkens bis zum Ende des 19. Jahrhunderts das sozialistische Denken mehr und mehr zum dominierenden politischen Ideal wurde und schließlich die Gesetzgebung beherrschte. Dahinter steckte die Illusion, die Gesellschaft durch «rationale» Planung im Interesse der materiellen Gleichheit, die mit einer sogenannten sozialen Gerechtigkeit ethisch begründet wurde, lenken zu können.

Als diese Illusion im großen revolutionären sozialistischen Experiment des 20. Jahrhunderts scheiterte, wurde sie reformerisch durch den umverteilenden Wohlfahrtsstaat fortgesetzt. Die Herrschaft der Mehrheit – die Demokratie – geriet dabei in einen Konflikt mit dem Liberalismus. Grenzenlose Demokratie kann die individuelle Freiheit bis zu ihrer Beseitigung zurückdrängen, ja totalitär werden. Demokratie betrachtet Hayek lediglich als Mittel oder ein Verfahren zur Sicherung der Freiheit. Sie ist ein Mittel, das nichts über Ziele und Zwecke aussagt. In einer zentralen Planwirtschaft und dem korporatistischen Wohlfahrtsstaat werden unvermeidlich die liberalen Ideale des Rechtsstaates verdrängt: beide beruhen auf Befehlen und Maßnahmen, die nicht an allgemeine Regeln und das Recht der Freiheit gebunden sind.

Hayek ist Kritiker des Rationalismus, also des Glaubens an die beliebige Machbarkeit der sozialen Wirklichkeit durch wissenschaftliche Vernunft wie er im Sozialismus kulminiert. Zentrale Planung kann das sich ständig wandelnde, lokal und persönlich gebundene individuelle Wissen nicht erfassen. Die Gesellschaft lässt sich nicht nach Art einer Maschine konstruieren. Hayek spricht später von diesem Ideal als «Konstruktivismus». Er zeigt die Grenzen der planenden Vernunft auf, was nicht mit Irrationalismus zu verwechseln ist, sondern nur die Grenzen dessen zeigt, was sie leisten kann.

«Der hier vertretene Antirationalismus darf aber nicht als Irrationalismus verstanden werden. Wir vertreten hier nicht die Abdankung, sondern eine rationale Prüfung des Bereiches, in dem es angemessen ist, die Vernunft einzusetzen.» (S. 87)

Hayek spricht auch von einem «kritischen Rationalismus». Das in den Institutionen, Traditionen, Werkzeugen gespeicherte Wissen sieht Hayek als Ergebnis der Erfahrung und Bewährung über Generationen. Die soziale Evolution, durch den Gruppenwettbewerb vorangetrieben, belohnt durch Erfolg jene Gruppen, welche Institutionen besitzen, die ihr Gedeihen und ihr Wachstum fördern, ohne dass sie diese eigens «erfunden» haben – nicht die Sprache, nicht die Moral, auch nicht das Geld. Die überkommenen Moralregeln (wie die Zehn Gebote) sind nie von einem Einzelnen Menschen ausgedacht, sondern Ergebnis der historischen Siebung, einer sozialen Tauglichkeitsprobe. Völker mit nicht wettbewerbstauglichen Regeln sind zurückgedrängt oder verschwunden. Diese Regeln wie die zahllosen überkommenen Sitten, Gewohnheiten, Bräuche, denen wir häufig ohne Nachdenken und Begründung folgen, sind lebenswichtige Regeln zur Koordination der sozialen Handlungen:

«Die allgemeine Beobachtung dieser Konventionen ist eine notwendige Voraussetzung für die Geordnetheit der Welt, in der wir leben, für die Möglichkeit, uns darin zurechtzufinden, obwohl wir ihre Bedeutung nicht kennen und uns viel- leicht nicht einmal ihrer Existenz bewußt sind.» (S. 78)

«Alles als Aberglauben zu behandeln, was nicht nachweisbar richtig ist, ... kann oft Schaden stiften. Dass wir nicht glauben sollen, was als falsch bewiesen ist, heißt nicht, dass wir nur das glauben sollen, was als richtig bewiesen ist. Es gibt gute Gründe dafür, dass jeder Mensch, der in der Gesellschaft erfolgreich leben und handeln will, viele allgemein verbreitete Meinungen hinnehmen muss, obwohl die Gültigkeit dieser Gründe nichts damit zu tun hat, ob diese Meinungen richtig sind.» (S. 81)

Eine erfolgreiche Gesellschaft sei immer in hohem Maße traditionsgebunden.

Hayek unterscheidet zwei Traditionen des Liberalismus: den evolutorischen, empirischen Liberalismus britisch-schottischer Tradition und die Traditionen des französischen «rationalistischen» Liberalismus und auch der Physiokratie, welche alles für willkürlich oder unvernünftig erklären, was sich nicht evident, am besten mathematisch oder empirisch-naturgesetzlich beweisen lässt oder sich einer Volkssouveränität entgegenstellt. Diese französische Traditionslinie überschätzt die Formbarkeit der sozialen Wirklichkeit und führt in den Sozialismus. Die große Gesellschaft ist eben zwar ein «Ergebnis menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs». Diese Bemerkung Adam Fergusons ist ein Schlüsselsatz der hayekianischen Sozialphilosophie, die jeden Anspruch auf Totalplanung als «Anmaßung von Wissen» zurückweist.

— Wird fortgesetzt. —

LITERATUR

Ich zitiere hier nach der ersten Ausgabe von Hayeks «Die Verfassung der Freiheit» (Tübingen, 1971). Heute in Hayeks «Gesammelte Schriften in deutscher Sprache», B3, 4. Aufl., Tübingen 2005
Sekundär:
Bouckaert, Boudewijn und Godart -van der Kroon, Annette (Ed.): Hayek revisited, Cheltenham 2000
Caldwell, Bruce: Hayek´s Challenge, Chicago, 2004
Feldmann, Horst: Hayeks Theorie der kulturellen Evolution. Eine Kritik der Kritik, in: Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen, Berlin 2002, S. 51 ff.
Frei, Christoph/Nef Robert: Contending with Hayek, Bern 1994
Getabstract.com.de: Zusammenfassung von «Die Verfassung der Freiheit» Hennecke, Hans Jörg: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000
Horn, Karen Ilse: Hayek für jedermann. Die Kräfte der spontanen Ordnung, Frankfurt 2013
Schwarz, Gerhard/ Habermann, Gerd/Aebersold Szalay, Claudia (Hrsg.): Die Idee der Freiheit (darin zur «Verfassung der Freiheit» Viktor J. Vanberg, S. 84/85), 2. Aufl., Zürich 2007
Schwarz, Gerhard/Wohlgemuth, Michael: Das Ringen um die Freiheit. «Die Verfassung der Freiheit» nach 50 Jahren, Zürich 2011
Waschkuhn, Arno: Kritischer Rationalismus (Darin ausführlich über Hayek S. 85ff.), München 1999

DER AUTOR

Prof. em. Dr. Gerd Habermann ist Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Initiator und Mitgründer der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und der Friedrich-August von Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft.
Wir veröffentlichen den Artikel von Prof. Gerd Habermann mit freundlicher Genehmigung des Autors. Copyright 2021, Liberales Institut, Zürich, Schweiz.

 

 

 

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