Prof. Gerd Habermann: 50 Jahre «Verfassung der Freiheit» – Teil 3

— Fotos: privat; ÖNB Wien

Instrument zur zwangsweisen Umverteilung

Grenzen der Wirksamkeit des Staates

Von Prof. Gerd Habermann. — Potsdam, im Oktober 2021

Sieht man sich den dritten Hauptteil an, zeigt sich, dass bei Hayek jedenfalls von durchgehender Staatsskepsis, aber nicht von Staatsnihilismus gesprochen werden kann. Insofern ist Hayek kein Radikaler im Sinne der Individualanarchisten (wie Rothbard, Hoppe, Dürr), sondern ein Anhänger eines streng regelgebundenen Rechtsstaates, der im Detail dem Staat manche nützliche Aufgabe pragmatisch zuweist, ähnlich wie Adam Smith, also kein «Marktradikaler» oder Freund des unbedingten Laissez-Faire. Gleichwohl ist er ein scharfer Kritiker des modernen Wohlfahrtsstaates:

«Als Mittel zur Sozialisierung des Einkommens und zur Schaffung einer Art Haushaltsstaat, der jenen, die am würdigsten befunden werden, Wohltaten in der Form von Geld oder Sachen zuteilt, wurde der Wohlfahrtsstaat für viele der Ersatz für den altmodischen Sozialismus.» (S. 366)

Dieses Gebilde ist nicht nur eine Vorkehrung zur Versorgung besonders Bedürftiger (wie immer noch viele meinen), sondern vor allem ein Instrument zur zwangsweisen Umverteilung von Einkommen, in dem nicht eine Mehrheit von Gebenden bestimmt, was den wenigen Unglücklichen gegeben werden soll, sondern eine Mehrheit von Nehmenden bestimmt, was sie einer reicheren Minderheit wegnehmen soll (ebd.)

Die Garantie eines sozialen Minimus, einer Art Mindesteinkommen, hält Hayek für vertretbar – also eine steuerfinanzierte Sozialhilfe mit Bedürftigkeitsprüfung wie sie auch in liberalen Staaten Tradition hat (S. 381/82). Er ist indessen gegen die Sozialversicherung als staatswirtschaftliches Monopolunternehmen mit Zwangscharakter, ein zur Expansion neigendes, den Sozialdemagogen ausgeliefertes Instrument der Umverteilung.

«Kann geleugnet werden, dass die meisten (der Zwangsversicherten) bessergestellt würden, wenn ihnen das Geld ausgehändigt würde und es ihnen freigestellt würde, ihre Versicherung von privaten Unternehmen zu kaufen?» (S. 373)

Die Alten wurden durch politikverschuldete Inflation in die staatliche Rentenversicherung getrieben, zur Eigenvorsorge unfähig gemacht und von der Mildtätigkeit der jüngeren Generation abhängig (S. 376/377). Hayek wirbt für eine Mindest-Versicherungspflicht statt einer staatlichen Pflichtversicherung.

Auch im Bildungswesen (S. 462 ff.) wendet sich Hayek gegen staatliche Monopole, ist allenfalls für eine zwangsweise staatliche Mindestschulung, auch über Staatsfinanzierung, aber nicht im staatlichen Betrieb. Er nimmt Milton Friedmans Vorschlag eines Gutscheinsystems auf:

«... für die große Mehrheit der Bevölkerung wäre es zweifellos möglich, die Organisation und Leitung der Schulen vollständig der Privatinitiative zu überlassen, wobei die Regierung nur die finanzielle Grundlage bietet und einen Mindeststandard für all jene Schulen sichert, für die die Gutscheine gelten.» (S. 467)

Hayek kritisiert die Idee einer Startchancengleichheit im Bildungsbereich:

«Zu verlangen, dass alle, die zu derselben Zeit in einem gegebenen Land leben von demselben Stand beginnen sollen, ist mit einer sich entwickelnden Zivilisation ebenso wenig vereinbar wie zu verlangen, dass diese Gleichheit Menschen zugesichert werden sollte, die zu verschiedenen Zeiten oder an verschiedenen Orten leben.» (S. 472)

Hayeks Bildungsideal orientiert sich an Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill.

Wohl selten ist das Progressionsprinzip in der Besteuerung grundsätzlich so scharf kritisiert und nach ihren negativen Auswirkungen hin analysiert worden wie von Hayek (S. 387 ff.), namentlich als Behinderung der privaten Kapitalbildung und als Ausdruck von politischer Willkür: Das Progressionsprinzip sei nichts anderes als eine Aufforderung an die Mehrheit zur Diskriminierung der Minderheit, mit dem Gerechtigkeitspostulat als Vorwand für reine Willkür (S. 398).

Was die Währungspolitik betrifft, ist Hayek noch nicht gegen Zentralbanken an sich, wohl aber schon für Währungswettbewerb. Er sieht klar die staatliche Geldpolitik als große Gefahr für die Geldwertstabilität (Inflation!). Später wird er konsequent für Freihandel in Geld eintreten: für eine Entnationalisierung des Geldes (1977).

Breitseiten feuert Hayek gegen die Macht der Gewerkschaftsmonopole (mit «closed shops» und Streikposten). Hier wird sich Margret Thatcher Anregungen geholt haben. Reich an Anregungen im Sinne liberaler Ideen sind auch die Kapitel über Stadtplanung oder Landwirtschaft. Wir wollen uns hier mit diesen Stichworten begnügen.

Wenig findet sich in Hayeks «Verfassung» zum gegenwärtig so aktuellen Umwelt- oder gar Klimaproblem. Das Heraufkommen eines radikal-egalitären Spät- oder Kulturmarxismus mit Einschränkungen sogar der Sprachfreiheit und Absurditäten wie dem «Genderismus», der «Dekonstruktion» und der «Cancel Culture» konnte er – abgesehen von einigen späten Bemerkungen zur 68er-Bewegung – nicht mehr kommentieren. Seine Einstellung zu dieser kulturfeindlichen Bewegung läßt sich indessen leicht aus seinen Grundansichten ableiten. Auch die neuen Gefahren aus der «Digitalisierung» im Sinne eines Überwachungs- und totalitären Kontrollstaates konnte er noch nicht wissen. Jedoch schreibt er:

«Die größten Gefahren für die menschliche Freiheit liegen wahrscheinlich noch vor uns.» (S. 280)

— Wird fortgesetzt. —

LITERATUR

Ich zitiere hier nach der ersten Ausgabe von Hayeks «Die Verfassung der Freiheit» (Tübingen, 1971). Heute in Hayeks «Gesammelte Schriften in deutscher Sprache», B3, 4. Aufl., Tübingen 2005
Sekundär:
Bouckaert, Boudewijn und Godart -van der Kroon, Annette (Ed.): Hayek revisited, Cheltenham 2000
Caldwell, Bruce: Hayek´s Challenge, Chicago, 2004
Feldmann, Horst: Hayeks Theorie der kulturellen Evolution. Eine Kritik der Kritik, in: Kulturelle Prägungen wirtschaftlicher Institutionen und wirtschaftspolitischer Reformen, Berlin 2002, S. 51 ff.
Frei, Christoph/Nef Robert: Contending with Hayek, Bern 1994
Getabstract.com.de: Zusammenfassung von «Die Verfassung der Freiheit» Hennecke, Hans Jörg: Friedrich August von Hayek. Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000
Horn, Karen Ilse: Hayek für jedermann. Die Kräfte der spontanen Ordnung, Frankfurt 2013
Schwarz, Gerhard/ Habermann, Gerd/Aebersold Szalay, Claudia (Hrsg.): Die Idee der Freiheit (darin zur «Verfassung der Freiheit» Viktor J. Vanberg, S. 84/85), 2. Aufl., Zürich 2007
Schwarz, Gerhard/Wohlgemuth, Michael: Das Ringen um die Freiheit. «Die Verfassung der Freiheit» nach 50 Jahren, Zürich 2011
Waschkuhn, Arno: Kritischer Rationalismus (Darin ausführlich über Hayek S. 85ff.), München 1999

DER AUTOR

Prof. em. Dr. Gerd Habermann ist Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam, Initiator und Mitgründer der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und der Friedrich-August von Hayek-Stiftung für eine freie Gesellschaft.
Wir veröffentlichen den Artikel von Prof. Gerd Habermann mit freundlicher Genehmigung des Autors. Copyright 2021, Liberales Institut, Zürich, Schweiz.

 

 

 

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