Prof. Klaus Bachmann: Der deutsche Föderalismus wird zu Grabe getragen
Obelix und die Deutschen
Nicht nur die Corona-Pandemie hat bewiesen, dass der Bund immer mehr Aufgaben in Deutschland übernimmt. Die schleichende Zentralisierung birgt große Gefahren für die Demokratie. Ein Essay.
Von Prof. Dr. hab. Klaus Bachmann. — Warschau, 28. Juli 2022
Für Ausländer, die keine Politikwissenschaftler sind und sich in zwei Sätzen über das politische System der Bundesrepublik informieren wollen, gibt es einen crash course, der nur aus zwei Sätzen besteht. Er geht so: „1949 bekamen die Deutschen von den Alliierten eine Verfassung übergestülpt, die politische Entscheidungen extrem dezentralisierte und die Regierung an die Kandare von vielen mächtigen Kontrollinstanzen legte. Dadurch wurden die Bürger erfolgreich vor ihrer Regierung und unsere Nachbarn vor unangenehmen Überraschungen durch Deutschland geschützt.“
Wenn es sich bei dem Fragesteller um den Bürger eines angelsächsischen Landes handelt, wird er vermutlich verständnislos nicken und behaupten, das sei „very interesting“, ein untrügliches Zeichen dafür, dass er kein Wort verstanden hat. Westeuropäische Fragesteller, deren Großeltern von unangenehmen Überraschungen durch Deutschland aus der Vergangenheit zu berichten wissen, nicken einfach nur mit dem Kopf. Für sie klingt das logisch und einleuchtend.
Osteuropäer verstehen das auch, aber sie reagieren meist anders, sie fragen: „Warum habt ihr das dann nach 1949 nicht sofort geändert? Oder wenigstens nach 1990?“ Der Gedanke, dass jemand sich oder seine Regierung an die Kandare legt, ist für Menschen, für die staatliche Unabhängigkeit geradezu heilig und fremde Besatzung ein Gräuel ist, nur schwer nachvollziehbar. Auch der Gedanke, ein Land könne von seinen Freunden und Verbündeten besetzt sein, erscheint da eher exotisch.
Die einzigen, die das nicht so sehen, sind für gewöhnlich die Deutschen selbst. Wer sonst würde tatenlos zusehen, wie historische Länder (Preußen) willkürlich in neue Bundesländer aufgeteilt oder Fürstentümer mit unterschiedlichen Glaubensrichtungen, die früher sogar verfeindet waren in neue Bundesländer zusammengemixt werden (Baden-Württemberg) ohne das sofort rückgängig zu machen, sobald es geht? Und doch hat sich nichts als so dauerhaft erwiesen wie die föderale Ordnung der Bundesrepublik. Nicht einmal Brandenburg und Berlin wollten zusammen, als das wieder möglich wurde.
Studenten an polnischen Hochschulen lernen, wie die europäischen Großmächte im neunzehnten Jahrhundert willkürlich Grenzen durch ethnisch homogene, historisch gewachsene Regionen zogen und die traditionellen Herrscher Afrikas dagegen protestierten oder sogar dagegen zu Felde zogen. Und dann lernen sie, dass es ein Land gibt, dessen Bevölkerung – wie die Hauptperson in der Schlussszene von George Orwells Big Brother – nicht nur seine Besatzer, sondern auch die Ordnung, die sie ihm hinterließen, so sehr ans Herz geschlossen hat, dass sie Leute als Verfassungsfeinde verfolgt, die das nicht tun. Es gibt keine Goscinny-Ausgabe, in der Asterix und Obelix gegen die Germanen ziehen, aber wenn es sie gäbe, würde sie sicher auch mit einem so denkwürdigen Satz wie Orwells Buch enden. Zum Beispiel so: „Die spinnen, die Deutschen.“
Nur dass das alles langsam aber sicher obsolet wird. Aber keiner merkt es, weder die polnischen Studenten, noch die angelsächsischen Touristen, noch die Deutschen selbst.
Die schleichende Zentralisierung
Jetzt war wieder so ein Moment, vor wenigen Tagen. Da trat Nancy Faeser, die Innen- und Heimatministerin vor die Presse und verkündete, sie wolle die Zuständigkeit für die Sicherheit des Datenverkehrs in Deutschland von den Ländern auf den Bund übertragen und zugleich das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik stärken. Es gab die üblichen Kommentare von Nichtregierungsorganisationen, dass manche der Rechte, die Faeser dem Amt geben wolle, datenschutzrechtlich problematisch seien und andere nicht adäquat zu den Problemen, die sie damit lösen will. Aber, anders als in der Pandemiepolitik, beim Wohnungsbau oder der Hochschulpolitik hatten die Länder dieses mal nichts dagegen, die Zuständigkeit abzugeben. Bisher haben sie nicht einmal eine Gegenleistung verlangt. Vielleicht kommt das noch. Frontal in Frage gestellt hat Faesers Vorstoß allerdings niemand. Russische, chinesische und kommerzielle Hacker bedrohen uns alle und spätestens seit der Pandemie gehört es zum guten Ton, die Aufsplitterung von Kompetenzen auf die Länder zu beklagen und von einem „Flickenteppich“ verschiedener Politiken zu reden, auf dem sich der einzelne Bürger nicht mehr zurechtfindet.
Und genau hier, würde Goethe sagen, ist es Pudels Kern. Man könnte auch, da Pudel ja Hunde sind, davon sprechen, dass an dieser Stelle der Hund des Föderalismus begraben ist. Jedenfalls ist er dabei, langsam und unauffällig, ohne Trauerzug und Blaskapelle, zu Grabe getragen zu werden. Paradoxerweise sogar von vielen, die die direkten Nutznießer des Föderalismus sind.
Nieder mit dem Flickenteppich
Über sechzig Mal ist das Grundgesetz bisher geändert worden. Manchmal war das spektakulär und erregte Proteste und Widerstand auf den Straßen, manchmal ging es still- und leise vonstatten. Angesichts einer solch großen Zahl von Änderungen, denen ja immer zumindest ein Teil der Opposition zustimmen muss, fällt Faesers jüngster Vorschlag kaum ins Gewicht. Will man es in der immer populärer werdenden Terminologie von Naturkatastrophen ausdrücken, ist er weder ein Dammbruch noch ein Wasserfall. Er ist nur ein weiterer jener stetigen Tropfen, die den Stein aushöhlen.
Zu tropfen begann es bereits lange vor der Pandemie. Mal ging es darum, ob der Bund die Hochschulen reformieren darf, die eigentlich ja der Länderhoheit unterstehen, ob er die Länder beim Wohnungsbau unterstützen darf, was auch Ländersache ist, es ging darum, wer besser Autobahnen verwaltet und renoviert, wer besser und schneller Schulen digitalisiert. Für jedes dieser Probleme wurde eine pragmatische Lösung zwischen Bund, Ländern (und manchmal auch Gemeinden) ausverhandelt, für die es danach entsprechende Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat gab und die in der Regel auch vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Bestand hatten. Niemandem fiel auf, dass dabei ein Konzept übernommen wurde, das in einem Nachbarland Deutschlands seit Jahrzehnten angewendet wird. Nur dass es da genau umgekehrt funktioniert. Die Rede ist von Belgien, dem Land von Asterix und Obelix, was in diesem Kontext gar nicht so bedeutungslos ist.
Der belgische Flickenteppich
Belgien hat eine extrem komplizierte und umfangreiche Verfassung. Wer sie sich ausdrucken will, sollte vorher noch einmal ordentlich Papier einkaufen und die Toner-Kassette erneuern. Diese Verfassung verlangt, dass jede Verfassungsänderung vom Parlament (und unter Umständen sogar von den Teilparlamenten, wovon es in Belgien zwei verschiedene Sorten gibt) mit einer qualifizierten Mehrheit verabschiedet werden muss. Und die neue Verfassung muss danach nochmal von einem neugewählten Parlament abgesegnet werden. Damit man nicht bei jeder Verfassungsänderung Neuwahlen ausschreiben muss und dabei versehentlich die Regierung stürzt (Regierungsbildung ist in Belgien ja traditionell eine heikle Sache, die leicht schiefgeht), werden Verfassungsänderungen immer am Ende einer jeden Legislaturperiode verabschiedet, wenn sowieso Neuwahlen anstehen.
Und so wird seit Jahrzehnten in Belgien eifrig reformiert, und immer nach demselben Prinzip: Das reichere Flandern bekommt mehr Kompetenzen auf Kosten des Föderalstaats und kauft dem ärmeren Wallonien seine Zustimmung dazu durch Finanztransfers ab. Geld gegen Macht. Wollte man es in deutsche Kategorien fassen, könnte man auch sagen: Flandern pumpt immer mehr Geld nach Süden, damit der Flickenteppich immer größer und bunter wird. Inzwischen machen die belgischen Regionen schon eigene Außenpolitik und haben eigene Neben-Botschaften im Ausland.
Allerdings passiert da genau das Gegenteil von dem, was in Deutschland vor sich geht. In Belgien wird nicht der Föderalismus, sondern der Föderalstaat zu Grabe getragen. Aber der ist in den letzten Jahrzehnten auch immer mehr geschrumpft. Das hat schon Goscinny erkannt und Idefix zu einem zerbrechlichen Winzling gemacht.
In Deutschland nimmt der Bund dagegen eine immer mehr Obelix-ähnliche Gestalt an und bekommt immer mehr von dem Druidentrank, den Goscinny seinem Hündchen verweigert. Zwar gibt es bei der einen oder anderen Sachfrage dann Debatten darüber, ob die entsprechende Verfassungsänderung nicht Bürgerrechte gefährden könnte, doch eine Generaldebatte darüber, ob der gesamte Prozess bedenklich ist, gab es bisher nie. Im Gegenteil: wann immer der Bund in letzter Zeit Kompetenzen an sich gezogen und den Ländern dafür mehr Geld gegeben hat, gab es Lob dafür. Vereinheitlichung gilt nun als gut, Lob findet, wenn der Bund die Länder in die Schranken weist und einheitliche Regelungen durchsetzt (wie bei der Pandemiebekämpfung) und damit den „Flickenteppich“ beseitigt, den die damaligen Konferenzen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin hinter sich herzogen: Erst waren sich alle einig, dann interpretierte jedes Land die Ergebnisse nach eigenem Gusto und das Ergebnis war „ein Flickenteppich“.
Kritik daran gab es sogar in jenen öffentlich- rechtlichen Medien, die ihre Existenz und ihre Finanzausstattung erst dem Föderalismus verdanken. Flickenteppiche sind für Journalisten schwer zu vermitteln und leicht angreifbar, zumal man sich bei den öffentlich-rechtlichen Medien nach der Reform der Gebührenverordnung auch tiefere und weichere Teppiche leisten kann.
Der Weg in den Zentralstaat ist mit guten Gründen gepflastert
Auf die Idee, dass Flickenteppiche Ausdruck von Diversität sind und es ermöglichen, Recht und Gesetz an die Bedingungen vor Ort anzupassen, kam damals kaum jemand. Natürlich war es lästig, wenn man 2020 und 2021 im Sommerurlaub beim Überschreiten von Ländergrenzen darauf achten musste, wo man als Zwei-Kind-Familie mit PKW übernachten konnte, ohne eines oder beide Kinder am Hoteleingang testen zu müssen (und was man dann mit einem symptomfreien aber positiv getesteten Familienmitglied auf halber Strecke anfängt). Aber andererseits unterschieden sich ja auch die Verhältnisse zwischen den Bundesländern enorm und die Möglichkeiten der Grenzüberschreitung waren ja außerhalb der Urlaubszeit auch häufig sehr eingeschränkt.
Aber solche Argumente gehen ohnehin am Kern des Problems vorbei. Für jede Grundgesetzänderung und jede Kompetenz-Übertragung von den Ländern auf den Bund gab es gute pragmatische und technokratische Argumente. Bei der Hochschulreform, beim Bau von mehr Wohnungen, der Schuldigitalisierung, der Reform der Autobahnverwaltung waren die Gründe sogar sehr einfach: Der finanzielle Spielraum der Länder ist viel kleiner als der des Bundes. Das ist ein wenig wie in Belgien: der finanzielle Spielraum Walloniens ist geringer als der Flanderns, also verkauft es seine Zustimmung zu Reformen, die Flandern will, gegen finanzielle Spritzen aus der föderalen Kasse, in die Flandern das meiste einzahlt. Selbst in der Pandemie funktionierte das so zwischen Bund und Ländern: Die Länder konnten fröhlich selbst über Lockdowns bestimmen, brauchten den Bund aber für die Folgekosten in Form von Kurzarbeitergeld und Corona-Hilfen.
Bis der Bund die Entscheidung über Lockdowns dann direkt übernahm. Da atmeten alle (bis auf die Länderregierungen) auf, denn es gab plötzlich die ersehnte einheitliche Politik. Und so wurde „Einheitlichkeit“ still und leise ein neuer Wert an sich in der Politik, in den Medien, an den Stammtischen und in den Talkshows. Der Weg in die zentralstaatliche Hölle ist ja oft genug mit den besten Absichten gepflastert. Nur dass diese Hölle dabei vollkommen aus dem Blick gerät. Und so wird Deutschland immer zentralstaatlicher, während sich Belgien, glaubt man dem Volksmund, immer weiter auflöst. Eingedenk der Vorstellung, die Alliierte und parlamentarischer Rat vor über 70 Jahren einmal hatten, könnte man das allerdings auch genau andersrum sehen: So, wie sich das Grundgesetz und die Finanzströme und Kompetenzen zwischen Bund und Länder seit 1990 verändert haben, sind die Bürger immer schlechter vor ihrer Regierung und unsere Nachbarn immer weniger vor Überraschungen aus Deutschland gefeit.
Zuletzt ging dieser Trend sogar nicht einmal mehr auf Kosten der Länderkompetenzen, sondern der des Bundestags. Auf mehrere Jahre hinaus wurde ein Sondervermögen Bundeswehr außerhalb des Bundeshaushalts und damit auch außerhalb der parlamentarischen Kontrolle eingerichtet. Bundestag und Bundesrat stimmten zu, es ging ja – wie bisher immer – um grundsätzlich wichtige und nützliche Reformen, die noch dazu besonders dringend waren. Auch die CDU/CSU Opposition ließ sich dazu breitschlagen. Dafür, dass der Bundesrat weniger Mitbestimmungsrechte über die Militärausgaben hat, erwirkten sie für ihre Partei mehr Mitbestimmungsrechte über die Militärausgaben. Ganz so, als bedeute eine Aufwertung der Opposition auch eine Aufwertung des Parlaments. Wenn aber in ein oder zwei Jahren die Ampel über ein Misstrauensvotum stürzt und die Christdemokraten wieder in die Regierung eintreten, werden die Abgeordneten, die dann auf den Oppositionsbänken sitzen werden, wenig davon haben, dass Friedrich Merz bei Olaf Scholz im Frühjahr 2022 mehr Mitsprache über die Militärausgaben ausverhandelt hat.
Wenn dann ein ausländischer Tourist in zwei Sätzen die deutsche Demokratie erklärt haben will, kann man ihm so antworten: „1949 bekamen die Deutschen von den Alliierten eine Verfassung übergestülpt, die die Deutschen erfolgreich vor ihrer Regierung und ihre Nachbarn vor unangenehmen Überraschungen durch die Deutschen schützte. Und genau das ändern sie jetzt gerade.“ Das werden dann garantiert alle „very interesting“ finden und verständnislos mit dem Kopf nicken.
DER AUTOR
Prof. Dr. Klaus Bachmann ist Politikwissenschaftler, Historiker, Publizist und Professor für Sozialwissenschaften an der Universität für Sozial- und Geisteswissenschaften SWPS in Warschau. Weitere Informationen auf der Webseite der SWPS University und auf Wikipedia. Wir danken Herrn Prof. Dr. Klaus Bachmann herzlich für die Erlaubnis, seinen Essay auf unserer Vereinswebseite veröffentlichen zu dürfen.