Reisen in Corona-Zeiten: Erlebnisbericht von einer privaten Campingtour

— Foto: webHVDD

So macht Europa Urlaub unter Maske

Umgang mit dem Virus könnte unterschiedlicher nicht sein

„Müggelsee statt Malle“ hieß die von Regierung und Medien propagierte Losung für die Urlaubssaison 2020. Doch wer hält sich daran? Und wie sieht er aus, der Urlaub in Zeiten von Covid-19? Grund genug, für unseren Autor Frank Neubert, den Kontinent zu durchstreifen und sich in diesem sehr speziellen Urlaubsjahr bei den Nachbarn umzuschauen.

Von Frank Neubert. — Dresden, 24. August 2020

Die Fahrt sollte zunächst zum westlichsten Zipfel Frankreichs, dem kleinen bretonischen Ort Porspoder, gehen. Die Region mit dem passenden Namen Finistere ragt in den Atlantik wie der Kopf eines Drachens. In ein Gewässer, das die Engländer „The english channel“, die Franzosen schlicht „La Manche“ – den Ärmel – nennen.

Der Marsch nach Westen gelingt nicht in einem Ritt. Mitfahrer und Hitze verlangen nach etappenweisem Vorgehen. „Nur wenn wir reisen leben wir“, hat uns der zeitlebens von Zahnschmerzen geplagte Dichter Hans Christian Andersen hinterlassen. Zahnschmerzen sind es nicht, die dem Kontinent Sorgen bereiten. Es ist die Zeit nach dem „Lockdown“, der in einigen Ländern unterschiedlich scharf und unterschiedlich lange gehandhabt wurde. Es ist die Zeit, als die Schlagbäume in Europa über Nacht wieder heruntergingen. Eine Zeit, in der Franzosen plötzlich nicht mehr in Saarbrücken arbeiten und einkaufen durften, Deutsche keine billigen Zigaretten „oben in der Tschechei“ holen konnten, und Polen für einen Stau von Görlitz bis fast nach Dresden sorgte.

Nachdem die einzelnen Maßnahmen schrittweise gelockert wurden, stand die Urlaubszeit an. „Müggelsee statt Malle“ wäre in diesem Jahr die besser Wahl, trommelten die Medien. Doch halten sich die Deutschen daran? Und wie gehen unsere Nachbarn mit dieser Lage um? Am Hermsdorfer Kreuz passieren wir den östlichen Thüringer Bratwurstmeridian. Eine letzte Roster mit Senf in der Semmel wird vertilgt, ehe der westliche Außenposten der sächsisch-thüringischen Zivilisation bei Eisennach achteraus bleibt.

„In Barbaorum“ nannten die Römer alles, was außerhalb ihres Reiches lag. Und so beißt man bewusster in dieses Stück schmeckbare Heimat, wissend, dass man das jetzt eine Weile nirgends findet. Schon in der Tankstelle „am Kreuz“ merkt man: Maske ist hier nur lästige Pflicht. Die Frauen hinterm Tresen tragen ihre auf „halb-acht“ wie es früher beim Militär hieß, wenn einer nachlässig mit seiner Uniform war. Will heißen, sie hängen unterm Kinn. Man lächelt sich wissend zu. Kein Wort fällt, der Kunde möge doch bitte seine hochziehen. Ein Hauch von DDR liegt in der Luft. Ja, ja – die da oben haben das angeordnet. Und was „Ja, ja“ heißt, weiß jeder, der Werner und Meister Röhricht kennt.

 

Maske
Die Maske lag immer griffbereit. — Foto: Autor

 

Die erste Station ist noch auf deutschem Boden. Koblenz – die alte Römersiedlung mit ihrer ehemals preußischen Feste Ehrenbreitstein am Zusammenfluss von Mosel und Rhein. Oh Mosella, wie bist du doch unerwartet sauber, stellt der Wanderer überrascht fest. Hoch zu Pferde reitet Wilhelm der Erste auf dem Deutschen Eck seit über hundert Jahren. Gestiftet von der „dankbaren Rheinprovinz“, ist auf einer ehernen Platte zu lesen. Ob die sozialdemokratisch geführte Rheinprovinz heute immer noch so dankbar ist?

Die erhabenen Gedanken angesichts der geschichtlichen Artefakte verfliegen jedoch schnell, wenn man sich wieder in die Niederungen des Alltags begibt. Speziell des Camper-Alltags. Es ist Usus auf so ziemlich den meisten Plätzen, dass man auf speziellen Warteparkplätzen die Nacht verbringen kann, wenn man spätabends kommt und die Rezeption schon geschlossen ist. Die erfahrenen Camper sondieren dann unverzüglich die Lage, weil die Plätze in der Nacht meist für den Fahrzeugverkehr gesperrt, fußläufig aber zugänglich sind. Auf vielen durchsanierten Plätzen, vor allem im Osten Deutschlands, kann man Waschräume oder Toiletten nur mit einer speziellen Chipkarte öffnen, die man vorher in der Rezeption bekommt. Viele ältere Anlagen sind jedoch so gestaltet, dass man auch so mal an der Schranke vorbeigehen und die Sanitärräume nutzen kann.

Wir wollen am nächsten Tag sowieso weiter, aber der Ordnung halber wenigstens einen symbolischen Betrag für die Nutzung der sanitären Anlagen hinterlassen. Der Mitarbeiter der am nächsten Morgen geöffneten Rezeption empfängt die Besucher hinter einer Plastikscheibe sitzend. Er sagt nichts ob der fehlenden Maske beim Betreten des Raumes. Aber er winkt gleich ab. Alles voll. Ob man denn nicht wenigsten noch die Morgentoilette, gegen Bezahlung versteht sich, auf dem Platz erledigen könne? „Dann müsste ich sie formal einchecken, was ich aufgrund der Corona-Verordnung des Landes Rheinland-Pfalz nicht darf“, erklärt er sachlich. Man versteht: Irgendwie beißt sich die Katze in den Schwanz. Von unserer nächtlichen Frequentierung der gekachelten Örtlichkeit verliere ich lieber kein Wort mehr, um ihn nicht in Konflikt mit seiner Corona-Verordnung zu bringen. Was er nicht weiß, macht ihn nicht heiß. Und sein Gesundheitsamt auch nicht. Wir sind ja auch gleich weg.

Was bei diesem nächtlichen Besuch auffiel: Im Westen wird der Maskenzwang offenbar sehr ernst genommen. Zu beobachten war beispielsweise ein Senior, der weitab von jeglichen Zeitgenossen vor seinem Zelt an der frischen Luft stand und Maske trug.

Dass auch Männer hysterisch werden können, war die Erfahrung bei einem Tankstopp in der Eifel. Eingedenk der Erfahrung am Hermsdorfer Kreuz enterte ich den Verkaufsraum ohne Maske. Es war um diese frühe Morgenstunde kein anderer Kunde da. „Sie brauchen eine Maske“, sagte einer der zwei Verkäufer mit sich fast überschlagender Stimme und wildem Gestikulieren. In der Zwischenzeit hatte ich mich dem Tresen jedoch bereits genähert. „Oh, die habe ich jetzt im Auto vergessen. Kann ich nicht einfach bloß schnell bezahlen“. Offenbar einen ehrlichen und gesunden Eindruck machend, ließ er sich erweichen und deutet mit resigniertem Blick auf das Kartenterminal. „Machen sie wenigstens ihr T-Shirt hoch“, schlug er noch vor. Ich zog den Kragen meines geliebten Harley-Davidson-Shirts kurz hoch und ließ ihn in seine Ausgangsposition zurückschnippen. Jedes Wort über die Sinnlosigkeit dieser Alibimaßnahme erübrigte sich. Die beiden hatten sich auch wieder beruhigt.

Frankreich nimmt das Virus sehr ernst

Covid-19 heißt auf Französisch „covid dis neuf“ – gesprochen „dis nöff“ und klingt schon mal wesentlich eleganter. Könnte glatt eine Marke von Coco Chanel sein. Die Franzosen hatten mit die härtesten Ausgangsbeschränkungen. Schwer Erkrankte wurden im Rahmen von Hilfsersuchen auch in deutschen Spezialkliniken behandelt. Die Lokalpresse berichtete über einzelne Schicksale.

 

Autobahn
Leuchttafel über der Autobahn in der Bretagne bei Caen. Anzeigen mit dieser Botschaft findet man in ganz Frankreich. Sinngemäß übersetzt: Covid-19 – Lasst uns diesen Sommer unsere schnellen Reaktionen bewahren.  — Foto: Autor

 

Nach Stationen in der Normandie, der Bretagne, an der Loire, in Lyon und den Departments Auvergne und Rhone des Alpes lässt sich sagen: Die Franzosen nehmen die Sache mit dem Virus relativ ernst. Im Supermarkt E. Lecerce in Ploudalmezeau (Bretagne) verkündet ein quer über die Zufahrt gespanntes Banner unmissverständlich, was jetzt die Parole für den Tempel des Kommerz ist: No Mask – no shop. Und das in Frankreich, wo man sonst allergrößten Wert darauf legt, dass die Sprache nicht wie in Deutschland mit englischen Einsprengseln vermanscht wird.

Das Personal hält sich penibel daran, Mund und Nase zu bedecken, sagt aber nichts, wenn Kunden wie ich mit der Bartbinde unterm Kinn einkaufen. Es ist ein älterer Zeitgenosse, der mich unvermittelt an der Kehre eines Ganges anspricht und seine Worte mit entsprechenden Gesten in der Halsgegend garniert, dass ich sofort weiß, was er meint. An der Kasse steht er dann einige Kunden hinter mir und sagt wieder etwas, wobei das Wort „deu“ – zwei fällt. Will heißen, er sage mir das nun schon zum zweiten Mal. Auch hier werfen also Zwerge lange Schatten. Die anderen Kunden und die Kassiererin reagieren überhaupt nicht. Niemand solidarisiert sich mit dem Anschwärzer. Ich registriere: Diese Blockwartstypen sind also nicht auf mein Heimatland beschränkt. Es gibt auch die französische Variante.

Von Liberté und Resistance gegen die Zumutungen der Virologen ist im Mutterland der Revolution wenig bis nichts zu spüren. Eher eine ins Absurde gesteigerte Willfährigkeit gegenüber diesen Zwangsmaßnahmen. Wobei es meine rudimentären Sprachkenntnisse nicht zulassen, zu ergründen, ob sich das Verhalten aus der tatsächlichen Angst vor dem Virus oder aus der in Deutschland weit verbreiteten Furcht vor Denunziation und behördlichen Strafen speist.

Ich glaube nicht, dass man hier soweit paranoid ist, in mir einen Agent Provocateur zu wittern, der den ahnungslosen und gutmütigen Deutschen mimt, um arglose Franzosen zu provozieren. Aber es sind Szenen wie in der Rezeption am Campingplatz „Juno Beach“, einem Strandabschnitt in der Normandie, den die Kanadier 1944 eroberten, die sehr nachdenklich stimmen. Die Frau in der Rezeption, dem Alter nach schätzungsweise Anfang Vierzig, kommt blitzartig um ihren mit einer Plastikscheibe abgeschotteten Schreibtisch herum, um unser Gespräch über die Anmeldeformalitäten nach draußen zu verlagern. Obwohl außer uns beiden weit und breit kein anderer Kunde zu sehen ist.

Eine charmante Französin in der Rezeption eines Campingplatzes an der Loire überraschte ich beim „au revoir“-Sagen gerade bei ihrem Mittagssnack, bestehend aus einem mit Marmelade bestrichenen Baguette. Sofort unterbrach sie ihr Mahl und band sich, noch kauend, die Maske um. Obwohl ich beschwichtigend mit den Händen deutete, sie möge sich nicht stören lassen. Die Franzosen und ihre kämpferische Marianne sind auch nicht mehr so, wie man sie aus den Sagen und Geschichtsbüchern kennt. In Deutschland wäre man wahrscheinlich froh, wenn die Maßgaben der Regierung nur mit halb so viel Elan befolgt würden. Besonders in Sachsen und Baden-Württemberg. Der ganze Maskenball macht das Frankreicherlebnis an einigen Stellen etwas fad.

Die Schönheit der Mädchen in der „Boulangerie du Port“ in Courselles sur Mer lässt sich nur anhand von Stirn, Augen und Frisur erahnen. Die Anmut, mit der die jungen Mademoiselles das „Baguette Tradition“ oder die „Tartlette avec fraises et chocolate noir“ über den Tresen reichen, lässt einen schmunzelnd daran denken, warum der Eclair in Deutschland Liebesknochen heißt. Selbst hier, weitab von „Daheeme“ wie der Sachse sagt, sieht man Kennzeichen aus Leipzig, Freiberg, Emmendingen und Märkisch-Oderland. Sogar ein Pole aus Breslau hat hier seinen Zwei-Mann-Camper aufgeschlagen. Am Mont-Saint-Michel steht plötzlich OZ-Oschatz vor einem an der Kreuzung. Da wird dem Sachsen warm ums Herz. In dor Fremde ni alleene – och scheen.

Der Norden Frankreichs ist mit jedem Quadratzentimeter Geschichte pur. Man kann gedanklich locker durch die Epochen springen. Schlacht bei Anzincourt, die Kanonade von Valmy, Sedan, Versailles, Compiègne, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg und natürlich die Invasion. Doch jetzt hat man es mit einem anderen Feind zu tun. Gewarnt wird vor ihm beispielsweise auch auf den elektronischen Signaltafeln auf der Autobahn. „Port du masque obligatoire“ , ist der Spruch des Sommers 2020 am Eingang von Geschäften und Museen. Selbst in der Radiowerbung wird auf diesen Hinweis nicht verzichtet.

Und im Volk regt sich wenig Widerstand dagegen, so der Eindruck. Penibel achten die Kunden auf Abstand, wobei man das Gefühl hat, dass das D auf dem Kfz-Kennzeichen hier irgendwie einen unsichtbaren Bonus verschafft. Niemand reagiert unwirsch oder wird böse, wenn man bei der Frage nach einem Produkt die lästige Maske herunterzieht, um besser artikulieren zu können. Vielleicht hat sich herumgesprochen, dass Deutschland in dieser Krise wieder so eine Art Musterknabe ist, was man seinen Bewohnern stillschweigend honoriert

Vielleicht ist man auch nur freundlich zu Fremden, die sich in der Landessprache abmühen. Außerdem ist man hier fernab der großen Städte, wo es immer etwas gemütvoller zugeht. Befremdlich ist, dass selbst im Freien, etwa auf der Klosterinsel Mont-Saint-Michel die wirklich allermeisten brav ihre Maske tragen. Ohne den Widersinn zu hinterfragen, dass man nur ein Eis am Wegesrand kaufen muss, um den Fetzen Mull vor dem Gesicht zu reffen.

Was aber auch auffällt: Der Franzose lässt sich bei aller Endzeitstimmung seine Lebensart nicht gänzlich austreiben. Immer wieder sieht man Paare oder auch einzelne Menschen, die sich hinter einem Klapptisch mit Blick zum Meer niederlassen und gemütlich tafeln. Für etwas Baguette, Käse und einen frischen Landwein ist immer Zeit. Liebenswerte Bräuche im Nachbarland. Nachahmenswert.

Doch man erlebt auch Szenen, deren Absurdität eher einem Film der Sparte Art noir entstammen könnte. Man sieht beispielsweise ein altes Paar mit selbstgenähten Masken an der Uferpromenade spazierengehen. Hier im salzigen Seewind unter der brennenden bretonischen Sonne. UV-Strahlung in höchster Dosierung, Sauerstoff „frisch vom Fass“ aus den Weiten des Atlantiks. Mehr frische Luft geht nicht. Wo soll hier ein Virus herkommen? Von den Briten, die gerade erst EU-Flucht begangen haben?

 

Traktor
Eine junge Frau, die allein mit einem Traktor am Strand fährt, um dort Fischerboote einzuholen – mit Maske. — Foto: Autor

 

Oder eine junge Frau, die am menschenleeren Strand in der Normandie einen Traktor steuert, mit dem dort bei Ebbe die Fischerboote auf Trailern bewegt werden. Mutterseelenallein fährt sie auf ihrem Trecker den Strand entlang – mit Maske vorm Gesicht. Mir fällt bei diesen Bildern ein, dass selbst die immer devisenklamme DDR Kinder aus dem mit Abgasen besonders belasteten Chemiedreieck Halle-Merseburg-Leipzig bis nach Zypern schaffte, damit sich die angegriffenen Lungen in der Seeluft etwas erholen konnten. Und hier meint man, sich vor dem schützen zu müssen, was Ärzte sonst als kostenloses Heilmittel jedem Lungenkranken empfehlen. Schaurig absurd. Aber Realität.

Auf den Campingplätzen selbst nimmt die Maskendichte ab, je weiter man nach Süden kommt. Während im Norden noch etwa die Hälfte der Camper brav mit Maske zum Waschraum trabt, handhabt man das im Süden lockerer. Hier, zum Beispiel in Saint Remy sur Durolle, findet man auch wieder die erste Kinderdisko am Abend, während die Väter einen Pastis an der Bar nehmen. Man sitzt zusammen, lacht, schwatzt. Da die meisten Sanitärtrakte in Frankreich nur im Parterre in Waschboxen und Toiletten unterteilt sind, wird man durch die akustische Verbindung im Dachraum oft unfreiwilliger Ohrenzeuge nicht nur diverser Verdau-ungsgeräusche, sondern mitunter auch von Wortwechseln. Wobei sich manchmal die Frage stellt, was schlimmer ist.

So entspann sich folgender Dialog zwischen einer Mutter und einem schätzungsweise dreijährigen Kind. Dem Dialekt nach im Westen Deutschlands zu Hause. „Pass auf. Setz dich hin, aber fass nichts an. Ja, zuhause kannst Du alles anfassen, da ist alles schön sauber. Da kann man das. Hier bitte nicht. Ja, so. Prima. Pass auf. Nichts anfassen. Warte, die Mama macht auch noch schnell. Was hab ich gesagt? Du sollst doch nichts anfassen. Ja, wir waschen gleich Hände. Oh Gott, fass Dir nicht ins Gesicht. Nicht ins Gesicht fassen, hab ich gesagt.“ Das letzte schon mit schrill werdender Stimme. Dazu muss angemerkt werden: Die Toiletten waren pieksauber, die Tochter des Platzbetreibers gerade eben mit der morgendlichen Komplettreinigung fertig.

Je weiter südlich, desto tiefer die Masken, gilt auch für den öffentlichen Bereich abseits der Campingplätze. In einem Supermarkt in Lyon wachen schwarze Security-Leute an den Eingängen. Mit den muskelbepackten Aufpassern wollen sicher die wenigsten diskutieren. Aber sie scheinen sehr gutmütig zu sein. Was sicher nicht repräsentativ ist, aber auffällt: es ist mehrheitlich die dunkelhäutige Bevölkerung, die den Maskenzwang locker handhabt. Der Mundschutz wird maximal über die Lippen gezogen, sehr viele tragen ihn komplett unterm Kinn. Aber es gibt jetzt, Ende Juli 2020, keinerlei Interventionen von Seiten des Verkaufspersonals.

Bella Italia – wie man es kennt und einfach gern haben muss

Viverone. Norditalien. Ganz in der Nähe liegt Vercelli – den Lateinern besser als „Vercellae – Stadt in Oberitalien“ bekannt. Nicht nur lateinische Texte befassen sich mit den Vorkommnissen, die sich hier vor über 2000 Jahren abspielten. Auch in die Malerei fand die Schlacht auf den Raudischen Feldern Eingang. Es war Roms frühe Antwort auf ungezügelte Einwanderung von Norden her. Die Cimbern und Teutonen waren es damals, die mit einem zahlenmäßig weitaus stärkeren Heer in die Ebene südlich der Alpen einfielen, um hier neuen Siedlungsraum zu finden. Ihnen entgegen stellten sich die in Unterzahl kämpfenden Römer. Aber sie waren besser mit der Hitze vertraut und hatten während der Schlacht die Sonne im Rücken.

Seinen Eingang in die Annalen der Geschichte fand der Kampf, weil der Überlieferung nach die siegreichen Römer mit Entsetzen sahen, dass die Frauen der Teutonen erst ihre zurückweichenden Männer, dann ihre Kinder und schließlich sich selbst umbrachten, um einem Sklavendasein als Unterlegene zu entgehen.

Historisch so eingestimmt, glaubt man seinen Ohren nicht zu trauen, als es aus dem Dunkel vor der Campingplatzrezeption in Viverone „Salve, Salve“ durch die Nacht schallt. Die Italiener grüßen tatsächlich noch so. Der Sohn des Betreibers weist abends gegen halb elf freundlich in eine Lücke ein. Die Anmeldeformalitäten sind schnell erledigt. Gute Dienste leisten die Krankenkassenkarten mit den Konterfeis der Kinder. Niemand stört sich hier daran, dass die „Ausweise“ so bunt sind. Hauptsache Scheckkartenformat und ein Foto. Wenn es aus Deutschland ist, wird es schon seine Ordnung haben. Sind die Namen zu umständlich zum Aufschreiben, werden kurzerhand zwei Karten mit dem Handy abfotografiert. Fertig ist die Laube. Genug Bürokratia.

Zufällig fällt der Blick auf ein Foto der Kinderschar, das der Vater in seiner Brieftasche mit sich herumträgt. „Bambini, Bambini“ ruft es erfreut durch die Rezeption, die hier zugleich Bar, Veranstaltungsraum und Kleinladen für Camperbedarf ist. Wenn dann noch der Name der „Mama“ auf dem Buchstaben a endet und in diesen Gefilden gebräuchlich ist, brechen alle Dämme. Selbst der Hund wird geherzt, und, obgleich ein Rüde, mit „Bellissima, Bellissima“ umschmeichelt. Man lernt: offenbar wird Schönheit hier immer mit der weiblichen Form assoziiert.

Am Stellplatz ist man sofort von der lärmenden Fröhlichkeit der Südländer umgeben. Die Nachbarn sitzen auf einer selbstgezimmerten Veranda vor ihrem Wohnwagen und palavern bis tief in die Nacht. Da diese Sprache mit ihren gedehnt betonten Vokalen immer ein bißchen wie Musik klingt, wirkt es nicht störend. Auf deutschen Campingplätzen herrscht spätestens ab 21 Uhr so etwas wie unausgesprochene Nachtruhe. Hier tost das Leben bis lange nach Mitternacht, nur um dann kurz abzuebben, ehe es gegen 8 Uhr früh allmählich wieder anhebt.

Das Italienerlebnis überrascht am meisten. Nach Frankreich mit seinem doch über weite Strecken akribisch eingehaltenen Maskenzwang herrscht hier das krasse Gegenteil. Obwohl wir uns räumlich gesehen knapp eine Autostunde unterhalb von Bergamo befinden. Von hier stammten die verstörenden Bilder, die im Frühjahr um die Welt gingen. Kolonnen von Militärfahrzeugen, auf denen Särge abtransportiert wurden. Coronatote. Damals hieß es in der Tagesschau: Deutschland läge zeitlich eine Woche hinter diesen Bildern. Spätestens zu Ostern müsse auch bei uns entschieden werden, wer überhaupt ins Krankenhaus darf und wem man keine Chance mehr gibt. Herzlich willkommen in einem Horrorfilm von Stephen King. Eintritt frei. Alle dabei.

Italien hatte als erstes Land in Europa erst einzelne Gemeinden, dann ganze Regionen abgeriegelt. Der Eindruck knapp vier Monate später ist dagegen: Im Auge der Pandemie lebt es sich offenbar ganz kommod. Niemand trägt hier eine Maske. Die Nachbarn auf dem Campingplatz der schätzungsweise von 80 Prozent Dauercampern belegt ist, besuchen sich gegenseitig in ihren Parzellen, lachen, trinken, die Angler sitzen unten auf dem Steg am See, die Kinder spielen zusammen. Abstand? Maske? Vivere, heißt die Devise in Viverone. Über einigen Waschbecken des Sanitärtraktes sind weiß-rote Absperrbänder geklebt. Aber einige hat entweder der Wind schon wieder gelockert, oder genervte Benutzer, die sich bei Andrang waschen wollten.

Absurditäten auch hier. Obwohl die Toiletten in gemauerten Boxen untergebracht sind, die weder oben noch unten miteinander irgendeine Verbindung haben, ist zwischen ihnen immer eine zugeschlossen. Auf der Autostrada 4 von Turin nach Venedig dann ein anderes Bild. In den Raststätten Maskenzwang und die Pizzeria geschlossen. Keine Pizza, keine Spaghetti Bolognese, keine Lasagne. Zu essen gibt es nur in durchsichtige Plastikfolie abgepackte Pannini mit Belag. Mille Grazie.

Slowenien – offiziell Maskenpflicht, aber „Nicht-Masken-Atmosphäre“

In Slowenien, dem kleinen seitlichen Nachbarn, herrscht ebenfalls offiziell Maskenpflicht. Aber schon der erste Tankstopp verrät, hier ist „Halbmast“ angesagt. Die Kunden in der Tankstelle tragen keine Maske. Im Laden sind zwei Bedienstete beschäftigt. Eine Frau in der rot-schwarzen Unform des Tankstellenunternehmens räumt Regale ein. Sie trägt einen Mundschutz unterm Kinn. Auf eine Frage bezüglich der Mautformalitäten, kommt sie ohne zu zögern auf die sonst übliche Distanz heran und erklärt die Dinge. Die Plexiglasscheibe über dem Kassentresen stammt offenkundig aus den Anfangstagen der Krise.

Auf dem Campingplatz in der Nähe der kleinen Ortschaft Postojna fällt sofort auf: Hier trägt überhaupt niemand Maske. „So etwas brauchen wir hier nicht“, sagt die Chefin, eine vor Jahrzehnten hierher ausgewanderte Oldenburgerin. Mit dem Sohn komme ich ins Gespräch. Er ist zweisprachig aufgewachsen, hat die slowenische Schule besucht. Erst kürzlich war er für längere Zeit in Hamburg, was einen leicht norddeutschen Akzent in seiner Aussprache hinterlassen hat. Zuhause lese er auch slowenische Bücher, in der Mehrzahl jedoch deutsche, verrät er.

So wie ich kommen auch andere Camper in die Rezeption, den hier der Tresen eines urigen Wirtshauses im Schweizerhaus-Stil verkörpert. Unschlüssig blicken sie sich um. Man sieht auch hier wieder: Die Maskengeschichte hat viel mit Gruppenzwang und dem unterschiedlich ausgeprägten Hang zum Konsens zu tun. In dieser eindeutigen „Nicht-Masken-Atmosphäre“ möchte niemand der Spielverderber sein und die Stimmung trüben.

Auch beim Abendessen: Volles Haus wie man es von den Apres-Ski-Hütten in Österreich kennt. Zwischen den Tischen quirlen die Kinder. Mit Zollstock abgemessene Abstände? Mit Maske zur Toilette? Bedienung unter Vollschutz und womöglich noch Handschuhen? Man bekäme hier wohl mehr als einen Vogel gezeigt, wenn man das anspräche.

Ungarn in der Maskenfrage zweigeteilt mit Tendenz zur Ablehnung

Der erste Eindruck irritiert. Eine Polizeistation kurz hinter der Grenze, in der es die Vignette für die Straßen gibt. Hier das volle Programm. Hinweistafeln vor dem Eingang, Warnschilder und ein kleines Tischchen vor dem eigentlichen Büro mit einem Desinfektionsspender und einer Küchenrolle Papier daneben. Unbewusst verstärken die vergitterten Fenster noch den ernsten Eindruck. Zwei junge Frauen hinter einer Glasscheibe und die Masken korrekt über Mund und Nase. Man toleriert aber, als ich der besseren Verständigung wegen meine letztlich unters Kinn ziehe. Auch hier wieder der gefühlte, nicht belegbare Eindruck, eines Corona-Bonus, nachdem mein vorgelegter Ausweis mich als „deutsch“ ausweist. Vielleicht sähe es anders aus, wenn ich ein rumänischer Fernfahrer wäre. Wer weiß? Das strenge Sujet der Büroeinrichtung wird gemildert durch die freundliche Verabschiedung der beiden jungen Damen.

Auf dem Campingplatz direkt am Ufer des Balatons dann das diametral entgegengesetzte Bild. Das Personal völlig ohne Mundschutz. Zwar hinter einer Glasscheibe, aber die ganze Konstruktion des Empfangstresens sieht aus, als wäre sie schon immer so gewesen. Eine junge Frau antwortet auf meine Frage nach „English?“ „Of course, aber sie können auch deutsch mit mir reden“. Natürlich.

Die Ungarn sind ihrem ausgeprägten Nationalstolz immerhin so einsichtig, dass sie nicht ernsthaft erwarten, jemand lerne nur für den Urlaub ihre schwierige Sprache. Wahrscheinlich halten sich auch noch Reste der alten k.u.k.-Mentalität in der Volksseele, die dem Deutschen hier einen Heimvorteil verschaffen. Immerhin hieß das Gebilde in der Mitte Europas hier fast 200 Jahre lang „Österreich-Ungarn“. Von der jüngeren Geschichte ganz zu schweigen.

Genau genommen waren es die Ungarn, die dem Ostblock den Stöpsel zogen, was erst die DDR-Bürger befreite und dann zum Zusammenbruch des ganzen Kartenhauses hinter dem eisernen Vorhang führte. Jetzt, im Sommer 2020, machen sie wieder ihr eigenes Ding und gewähren, wenigstens für kurze Urlaubswochen, eine Auszeit in der Normalität. Die Zusammensetzung der Camper: Wie einst im Mai. Will heißen: Wie zu DDR-Zeiten. Man sieht Kennzeichen aus Dresden, Zittau, Freienwalde, Dippoldiswalde, Spree-Neiße und Berlin. Dazu viele Österreicher und zwei Drittel Ungarn.

Sieht man sonst auf den Campingplätzen hin und wieder einen 150-Prozentigen mit Maske, ist hier buchstäblich überhaupt nichts davon zu spüren. Der Campingplatz-Friseursalon erfreut sich höchster Beliebtheit. Die Friseuse spricht ein fast akzentfreies Deutsch. „Das habe ich in der Schule gelernt“, sagt sie stolz. Und sie braucht es täglich. Kaum habe ich Platz genommen, steckt eine, dem Dialekt nach, Österreicherin den Kopf durch die Tür. „Hättens morgen mal a bisserl Zeit für mich? Nur schneiden und färben?“, fragt sie. „Welche Farbe, ich muss noch nachbestellen“, antwortet die Friseuse. „Ach, so a weng was Dunkles, dass man das Grau net so sieht“, antwortet die Dame.

Abstand, Maske, Vorbestellung, Registrierung der Daten wie es in Deutschland beim Friseur jetzt vorgeschrieben ist – hier würde man in völlig entgeisterte Gesichter schauen. Auf einem Stuhl sitzt noch ein kleines, vielleicht fünfjähriges Mädchen. Sie hat sich einen Delphin von der Friseuse auf den Unterarm malen lassen. Ihre Spielkameraden schauen immer mal vorbei, während sie sitzt und wartet, dass das Bild auf ihrem Unterarm trocknet. Wohltuende Normalität.

Abends dann Szenen, die in Deutschland derzeit wahrscheinlich den Einsatz der Bundeswehr im Innern auslösen würden. Gegenüber der Campingplatzkneipe, einem überdachten Biergarten, gibt es eine kleine Holzbühne. Hier findet allabendlich eine halbstündige Kinderdisko zur Einstimmung der Kleinsten auf die Nachtruhe statt. Heute ist hier ein noch größerer Auflauf. Der schönste Hund des Campingplatzes wird gekürt.

Ein Gewimmel. Schulter an Schulter kauern, stehen und sitzen die Kinder am Bühnenrand oder halb darauf. Dahinter die Eltern und auch die Zecher an den Holztischen in der Campingbar nehmen regen Anteil an dem Hundedefilee. Großes Hallo bei der Siegerehrung, die Kinder springen auf die Bühne und streicheln ihre Favoriten, die sich das wohlig gefallen lassen.

Zugleich erfährt man über Handy und Facebook aus dem fernen Deutschland, dass es den ernstgemeinten Vorschlag gibt, eine Art Kontakttagebuch zu führen. Na, da viel Spaß, denkt man angesichts dieser Bilder. Das werden regalfüllende Meter. In den Supermärkten rund um den Campingplatz ein durchaus gemischtes Bild. Kleine Privatläden werden ohne Maske betrieben und sind auch problemlos so zu betreten.

In Supermärkten großer Ketten wie Coop, Tesco oder Prima wird zwar auf die Maske hingewiesen, aber niemand sagt etwas, wenn man sie irgendwie im Gesicht platziert. Welche „Coronastimmung“ im jeweiligen Laden herrscht, bekommt man nach einem ersten Blick in Richtung des Verkaufspersonals mit. Wichtigstes Indiz: Ist die Nase draußen oder drinnen?

Bei den „Piroschkas“ ist sie meistens draußen. Die Slowakei bietet ein ganz ähnliches Bild wie Ungarn, man tut so als ob, weshalb wir zum letzten Teil der kurzen Corona-Rundreise kommen können.

Große Freiheit – Tschechien

Die Tschechen waren im Frühjahr so ziemlich die Ersten, die aus der damaligen Berliner Sicht „durchdrehten“. Sie setzten den Maskenzwang für alle durch, schlossen Schulen und Grenzen. Ein knappes halbes Jahr später sind sie wieder „neben der Spur“. Oder vor der Zeit, wie man es nehmen will. Nur eben andersrum. Hier läuft nicht nur niemand mit Maske herum, er muss es auch von Staats wegen nicht.

Ein nach dieser Fahrt völlig unerwarteter Anblick tut sich in einer Tankstelle zwischen Ihlava und Prag auf. Alles rennt hier ohne Maske herum. Nur ein Recke, geschätzt 1,90 Meter groß, mit verwegenem Wuschelhaar, trägt eine selbstgenähte Maske, die mit ihrer Wölbung irgendwie an die von uns als „Sackschutz“ verspottete Hartgummischale erinnert, die sich unser Tormann beim Handball immer in die Hose schob. Der verwegene Globetrotter steigt nach dem Bezahlen folgerichtig in einen Rover Defender ein. Das Kennzeichen weißt ihn als Bewohner des Landkreises Hildesheim aus. Das Abenteuer, ohne Maske zu tanken, ist dem Naturburschen dann wohl doch zu gefährlich. Jeder sollte seine Grenzen kennen.

Da die Autobahn nach Norden direkt durch die Hauptstadt Prag führt, kann man dort Busse sehen, in denen die Menschen entspannt in die Abendsonne blinzeln. Niemand mit Maske. Beim Näherkommen der Grenze sind die ersten deutschen Sender wieder zu empfangen. Ein zweifelhaftes Vergnügen, trotz der Freude über die ersten heimatlichen Laute. Die Spitzenmeldung: Ein Spieler des SC Magdeburg ist positiv auf Corona getestet worden. Spieler, Personal und Familien müssen in Quarantäne, der Spielbetrieb abgesagt.

Man denkt an Ungarn, den Hundewettbewerb, die Szenen an der Bar, die Leute im Bus in Prag – na, prima. Der Wahnsinn hat uns wieder. Und täglich grüßt das RKI.

DER AUTOR

Frank Neubert ist der Redaktion persönlich bekannt, hat aber für die Veröffentlichung seiner Erlebnisse diesen Namen gewählt. Wir danken ihm herzlich für die Erlaubnis zur Präsentation auf unserer Webseite.

Zurück