Peter K. Jaensch über den Prozeß vor dem Bundesverwaltungsgericht
von Ralf Schutt
Der ÖRR gehört nicht vor Gericht,
sondern vors Volk
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk dient „als Erfüllungsgehilfe der vorherrschenden staatlichen Meinungsmacht“.
Von Peter K. Jaensch. — Dresden, 7. Oktober 2025
Wenn das unsere Demokratie und unser Rundfunk und unsere gemeinsame Meinungsbildung ist, dann wollen wir doch auch mitreden können, Teilhaberechte haben, Partizipationsrechte.
Carlos A. Gebauer, Rechtsanwalt der Klägerseite
In Leipzig begann am 1. Oktober 2025 vor dem Bundesverwaltungsgericht ein Prozeß, in dem es um grundsätzliche Fragen zur Programmgestaltung und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland geht. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, daß diese Frage nicht vor ein Verwaltungsgericht, sondern in einem Volksentscheid vors Volk gehört.
Nachdem eine heute 84-jährige Klägerin aus Bayern einen jahrelangen Rechtsstreit geführt hat, da sie sich weigerte, ihren Rundfunkbeitrag zu zahlen, weil die Sender ihrer Überzeugung nach nicht nur „kein vielfältiges und ausgewogenes Programm“ anböten, sondern auch „als Erfüllungsgehilfe der vorherrschenden staatlichen Meinungsmacht“ dienten, ist wieder Bewegung in der Frage nach Ausrichtung und Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland gekommen.
Staatsmacht an die Sender delegiert
Während im Privatrecht die Bürger sich gleichgeordnet gegenüber stehen, unterliegen sie im öffentlichen Recht der Staatsmacht der Sender. Im Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland hat der Staat sein Befugnis, verbindliche Anordnungen zu treffen und gegebenenfalls mit Zwangsmitteln durchzusetzen, an die Sender delegiert. Nach Meinung der Klägerin sind die Sender daher im Gegensatz zum Gebot der Staatsferne „Erfüllungsgehilfen der staatlichen Meinungsmacht“.
Für diesen Streit wäre eigentlich das Bundesverfassungsgericht zuständig. Dieses Gericht legt aber den Medienstaatsvertrag so aus, daß nicht das Grundrecht auf Informationsfreiheit nach Grundgesetz Artikel 5.1 oder das Gebot der Programmvielfalt nach dem Medienstaatsvertrag im Mittelpunkt steht, sondern der Wille des Gesetzgebers. Nach Hegel bestimmt dieser Gesetzeswille die geltenden Normen einer Gemeinschaft innerhalb derer der Einzelne seine Freiheit leben kann. Diese finden ihren Ausdruck in den Grundprinzipien der politischen Ordnungs- und Wertvorstellungen auf denen die freiheitliche demokratische Grundordnung Deutschlands beruht.
Volksbefragung könnte Wiedervereinigung vollenden
Bei der in Leipzig verhandelten Staatsferne des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland geht es um die umstrittene Distanz in der Beziehung zwischen Staat und Staatsvolk. Das deutsche kaiserliche Identitätsmodell der Demokratie geht von der Festschreibung eines einheitlichen Volkswillen mit einem vorgegeben Gemeinwohl aus und steht damit im Gegensatz zum westlichen Konkurrenzmodell, das von der Existenz unterschiedlicher Interessen ausgeht, die untereinander in Konkurrenz treten*. Es ist 1948 von den Alliierten und dem Verfassungskonvent in Herrenchiemsee und wieder 1990 im Einigungsvertrag festgeschrieben worden. Es soll dem in der feierlichen Einleitung zum Grundgesetz stehenden Gebot der Integration Deutschlands in Europa und der Völkerverständigung dienen. Daher der Sonderweg Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, als nominelle Demokratie abweichende Gedanken zu ächten. Diese negative Freiheit führt geradewegs in die Diktatur. Verhindern kann das nur eine Volksbefragung, welche die Wiedervereinigung vollendet. Der Gerichtsprozeß in Leipzig wird zeigen, ob der Wille dazu vorhanden ist.
ANMERKUNG
* Grundlagen der nationalen und internationalen Politik (ohne Autorennennung), Seite 19, Stark Verlag GmbH mit Sitz in München 2018
LITERATUR
◾ Martin Hartmann, Claus Offe (Hrsg.): Politische Theorie und Politische Philosophie. München 2011
◾ Philip Lepenies: Vom Werden und Vergehen der Demokratie. Berlin 2025
◾ Peter Massing, Gotthard Breit, Hubertus Buchstein (Hrsg.): Demokratietheorien von der Antike bis zur Gegenwart. Schwalbach/Ts 2017
◾ Dieter Nohlen, Florian Grotz (Hrsg.): Kleines Lexikon der Politik. München 2015
DER AUTOR
Peter K. Jaensch war zehn Jahre Lektor im Zeitungs- und Zeitschriftenarchiv des Zweiten Deutschen Fernsehens. Er schreibt gerade das Drehbuch zu einem Film über eine junge Frau aus Großröhrsdorf bei Dresden, die zweimal geflüchtet ist, um ihren Traum von Freiheit und persönlicher Unabhängigkeit zu verwirklichen. — Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Vereins wieder und werden hier als Diskussionsbeitrag veröffentlicht.