SLIDERGALERIE №22: Hans Jörg Rafalski

— Foto: Hans Jörg Rafalski

„Märkisches Wuppertal“ der Erosion überlassen

Anmerkungen des Fotografen zur Bildstrecke

Von Hans Jörg Rafalski. — Niederfinow, 13. April 2022

Hans Jörg Rafalski ist im Finowtal geboren und seit vielen Jahren der Industriegeschichte seiner Heimat auf der Spur. Die bilddokumentarische Arbeit des Brandenburgischen Kunstpreisträgers zeigt, dass viele der markanten Zeugen wirtschaftlicher Entwicklung verfallen: aus dem öffentlichen Bewusstsein in ein Schattenreich – hinter Zäunen und Verbotsschildern der Erosion überlassen. Zu jedem seiner Fotos kennt Hans Jörg Rafalski die Geschichten.

Der Drang Berliner Händler zu den seeischen Handelswegen ist vermutlich so alt wie ihre Stadt selbst. 1280 soll es bereits darum gegangen sein, einen lukrativen Wasserweg nach Norden zu finden. In ihrer Zeit als Hansestadt entwickelte Berlin Verbindungen nach Hamburg, aber der Oderfisch kam auf Kähnen über das Flüsschen Finow bis nach Vinowe, die alte Zollstätte Hohen- und Niederfinow, von wo er über einen Abschnitt der Via Imperii und Bernau noch eine Tagesreise auf dem Land zu absolvieren hatte.

Die Odermündung bei Stettin bot Berliner Händlern seit jeher den naheliegenden Punkt an der Ostseeküste und die Beziehung zwischen den Hauptstädten von Brandenburg-Preußen und Pommern sowohl auf dem Wasser als auch ab 1843 auf der Schiene ergab sich als einer der wichtigsten Hintergründe für das Erblühen Berlins. Folglich führten die Pläne, die man 1603 dem Kurfürsten Joachim Friedrich vorlegte, durch das wenig besiedelte Tal der Finow, das in der eiszeitlichen Ausformung eines Urstromtals die günstigsten Gegebenheiten zur Anlage der gesuchten Verbindung von Havel und Oder versprochen haben muss.

Der erste Finowkanal ist buchstäblich in Schlamm gegraben worden, in von Erlenbruch überzogenes Niedermoorland. 1620 konnten ihn nach 15-jähriger Bauzeit die ersten Kähne passieren. Kanäle unserer heutigen Vorstellung entstanden im deutschen Raum erst seit dem 17. Jahrhundert, man kann die erste Fassung des Finowkanals also mit gutem Recht unter den ältesten künstlichen deutschen Wasserstraßen nennen. Bild 1 zeigt eine Passage des Laufs der Alten Finow, die nach Herrichtung des durch die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges notwendig gewordenen zweiten Finowkanals 1746 als Schifffahrtsweg obsolet wurde und seither verwildert.

Werk und Siedlung sind nahezu spurlos aufgelöst

Im Verlauf des Finowkanals bildete sich ab 1603 der früheste, und bis zur Jahrhundertwende bedeutendste und diversifizierteste Industriestandort der Mark Brandenburg außerhalb Berlins, für den ab Mitte des 19. Jahrhunderts der Titel eines „Märkischen Wuppertals“ aufkam. Allerdings erwies es sich als ein besonderes Merkmal aller Entwicklung im Tal zu dem frühesten und bedeutendsten Gewerbe- und Industriezentrum der Mark, dass die jederzeit einem von äußeren Mächten hereingetragenen fremden Willen entsprang. Bewegung unterlag dem Einfluss der „Rufnähe“ zu Berlin, nicht dem Streben der Talbewohner.

1603 begründete Friedrich Joachim den Kurfürstlichen Kupferhammer noch vor Baubeginn am Finowkanal, der sehr schnell zum Zentrum der Kupferver- und -bearbeitung Kurbrandenburgs erhoben wurde und bis zum Ersten Weltkrieg in Betrieb war. Werk und Siedlung sind bis heute nahezu spurlos aufgelöst.

Um 1700 begründete Kurfürst Friedrich III. nahezu zeitgleich eine Eisenspalterei mit Drahtzug (Bilder 5 und 6) und ein Messingwerk (Bilder 2 bis 4). Die drei Werke und eine Messer- und Scherenfabrik erhoben das Finowtal zum metallurgischen Zentrum Kurbrandenburgs. Sie dienten einerseits den kameralistischen Bestrebungen der Landesherrschaft, das Land aus eigener Kraft aus der Umklammerung der Folgen des Dreißigjährigen Kriegs zu befreien, andererseits aber auch der Ausstattung des aufkommenden preußischen Militarismus.

Moniereisen für Hennigsdorf, Brandenburg und Riesa

Die Eisenspalterei, im Laufe des Zweiten Weltkriegs gegen die Interessen der Kriegsverwaltung stillgelegt, kam 1946 noch einmal zu besonderem Ruhm. Aus der in Bild 5 dargestellten Walzwerkhalle gingen die Moniereisen zum Bau der Stahl- und Walzwerke Hennigsdorf, Brandenburg und Riesa. Das aus vollkommener Überalterung nicht mehr demontierte Eberswalder Walzwerk war das einzig in der Ostzone verbliebene noch in der Lage, den Wiederaufbau der Industrie mit Bewehrungsstahl zu versorgen.

Insbesondere mit der Gründerzeit bewirkte das Vorhandensein der etablierten Kanalverbindung zwischen Oder und Havel einerseits und zwischen Berlin und Westpreußen bzw. Russisch-Polen andererseits eine beispiellose Konjunktur im Finowtal. Man kann gut und gerne davon sprechen, dass das gesamte Tal dem Berliner Gründerbooms als ein ausgelagerter Gewerbehof diente. Die bis heute wirkende Symbiose zwischen Metropole und Umland fasste in jener Zeit endgültig Wurzeln. Dabei verblüffen Diversifiziertheit und Synergien dieser in Brandenburg einzigartig gewesenen Industriesphäre.

Als erste Fabrik in Europa Hufnägel maschinell gefertigt

Von den metallurgisch geprägten Industriekernen aus entstanden im Weiteren zahlreiche Eisengießereien (Bild 7: Kontor der ehem. Eisengießerei Budde & Goehde) und herausragende Schmiede- und Maschinenbauunternehmen (Bild 8: Fabrikantenvilla der Hufnagelfabrik Moeller & Schreiber, die als erste Fabrik in Europa Hufnägel maschinell fertigte (1871), Bild 10: Schiffshebewerk Niederfinow, federführend entwickelt durch die Eberswalder Ardeltwerke, eines der vier führenden deutschen Kranbauunternehmen jener Zeit, im Bild das neue Schiffshebewerk aus dem Inneren des historischen gesehen).

Die Papierfabriken Spechthausen und Wolfswinkel zählten zu den innovativsten und bedeutendsten deutschen Papierherstellern. Auf dem Finowkanal entfaltete sich ein über Jahrzehnte nicht abreißender Stoff- und Warenstrom aus Osten nach Berlin, vor allem aus geflößtem Bauholz, Ton- und Ziegelwaren sowie Kies. In den Orten Liepe, Bralitz und Oderberg (Bild 9: Dampfschneidemühle Kupper) befanden sich einige der größten Dampfschneidemühlen Norddeutschlands, die nahezu ausschließlich den Berliner Bauboom versorgten.

Ruinen des Industriezeitalters wurden kein Material der Zukunft

Zur Jahrhundertwende erreichte der Finowkanal den Höhepunkt seiner Auslastung, die wirtschaftliche Entwicklung im Tal ihren Zenit, aber auch ihre Kapazitätsgrenzen. Dennoch blieben weiterhin Superlative mit dem Finowtal verbunden: die erste deutsche, von Siemens entwickelte Fernsprechleitung in Eberswalde (1877), das modernste Kohlekraftwerk Deutschlands (1909), die modernste Buntmetallfabrik Europas in Messingwerk (1920), die erste drahtlose Rundfunk-Konzertübertragung aus Eberswalde (1923), die modernste Spezial-Papiermaschine in der Papierfabrik Wolfswinkel (1930).

Doch wo man an Orten ohne Geschichte eine solche wünschte, brachten die Bewohner des Finowtals seit 1990 keine Vorstellungen davon auf, die Requisiten ihrer Vergangenheit zum Material ihrer Zukunft zu machen. Ein kollektiver Konsens zur Initiierung eines identitätsstiftenden Prozesses unter Verwendung der Ruinen des Industriezeitalters war hier nie vorstellbar und so verfielen die aus dem öffentlichen Bewusstsein in ein Schattenreich. Hinter Zäunen und Verbotsschildern ist dem Vergehen durch Erosion überlassen, was an anderen Orten Grundlage von Zukunft geworden ist.

DER AUTOR

Hans Jörg Rafalski, Jahrgang 1965, ist im Finowtal geboren und seit vielen Jahren der Industriegeschichte seiner Heimat auf der Spur. Bisher hat er im Verlag Papierwerken zwei Bücher zum Thema veröffentlicht, denen die Bildserie entnommen ist. Für seine bilddokumentarische Arbeit über das Vergehen des bedeutendsten industriekulturellen Erbes im Land Brandenburg hat er 2021 den Brandenburgischen Kunstpreis in Fotografie erhalten.
Hans Jörg Rafalski befasst sich als Bauingenieur und Kommunikationsdesigner in seiner freiberuflichen Tätigkeit vorrangig mit der Entwicklung von Lösungen zu Fragen, wie in unseren Städten der Zukunft funktionierende Lebensräume aussehen können. Daneben organisiert er ein Netzwerk der brandenburgischen Büchermacher und die Messe „Schöne Bücher aus Brandenburg“, die am 3. September 2022 zum vierten Mal in Potsdam stattfinden wird.
Bei Interesse lesen Sie bitte mehr auf den Seiten
Ideenagentur für konzeptionelle Kommunikation und Gestaltung https://www.rafalskikommunikation.com/
Papierwerken https://www.papierwerken.com/
Brandenburger Bücher https://www.brandenburger-buecher.de/

BUCHTIPP

Erosion
Hans Jörg Rafalski: Erosion – Spuren der Industriekultur im Finowtal https://www.papierwerken.com/
Hardcover mit 96 Seiten im Format 31,7 x 23,0 cm mit 48 großformatigen Fotografien und 1 Übersichtskarte – ISBN 978-3-00-054747-8 – Einzelpreis: 34 Euro

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